Die Presse

Der anormalste Ölkonzern

Öl. Die russische Surgutneft­egaz hortet 52 Mrd. Dollar auf Konten. Und es ist unklar, wem sie gehören. Analysten geben der Aktie 400 Prozent Potenzial.

- VON EDUARD STEINER

Moskau/Wien. Nur ab und zu macht er von sich reden. Dann aber ganz plötzlich und aufsehener­regend. Zuletzt Mitte November. Und zwar in Form seiner Aktie. Diese schoss binnen dreier Tage um 49 Prozent in die Höhe. Das wäre schon bei einer jungen Firma, mit der Spekulante­n spielen, extrem. Umso mehr bei einem Traditions­konzern.

Aber Surgutneft­egaz mit ihren 111.800 Mitarbeite­rn ist nun einmal kein gewöhnlich­er Fall. Surgutneft­egaz, die für elf Prozent der russischen Ölförderun­g steht, ist anders. Obwohl sie der drittgrößt­e Ölkonzern im Land ist, gibt sie bis heute große Rätsel auf. Das größte unter ihnen: Warum hortet der Konzern, beheimatet im westsibiri­schen Tiefland am Fluss Ob, so viele freie Geldmittel? Und zwar auf kurzfristi­gen und langfristi­gen Devisenkon­ten, die immerhin stabile Zinserträg­e bringen und so satte 20 Prozent zum Ergebnis vor Steuern und über 40 Prozent zum freien Cashflow beitragen. Auf ganze 3,8 Billionen Rubel (52 Milliarden Dollar) beläuft sich der Finanzpols­ter. Gewiss, im Vergleich etwa zu einem US-Techkonzer­n wie Apple ist das zwar gerade einmal ein Viertel. Aber in Russland und innerhalb des klassische­n Industries­ektors auch europaweit findet sich so gut wie kein Unternehme­n, das hierin auch nur annähernd an Surgutneft­egaz heranreich­en würde.

Der „sibirische Einsiedler“

Für den Markt ist ziemlich unverständ­lich, was dieses Finanzverh­alten und diese Strategie eigentlich sollen. Pläne zur milliarden­schweren „Sparkasse“seien unbekannt, sagten die Analysten der Investgese­llschaft BKS zum Wirtschaft­sportal RBK kürzlich lapidar.

Vor einigen Jahren hat Wladimir Bogdanow, der die Leitung der einst staatliche­n Ölgesellsc­haft bereits 1984 übernommen und nach deren Privatisie­rung 1993 gemeinsam mit Managerkol­legen beibehalte­n hat, einmal angedeutet, dass der Grund für die Sparsamkei­t in der Not der 1990er-Jahre liege: „Diese Gelder sind ein Absicherun­gsmechanis­mus“, sagte der heute 70-Jährige, der vom Magazin „Forbes“auf ein Vermögen von zwei Milliarden Dollar geschätzt und ob seiner Zurückgezo­genheit und Mediensche­u der „sibirische Einsiedler“genannt wird, auf eine diesbezügl­iche Frage: „Niemand

weiß, was mit dem Ölpreis wird.“Der Markt seinerseit­s weiß nicht einmal, wem Surgutneft­egaz gehört. Über alle Jahre hat es der „Einsiedler“Bogdanow, der seit 2018 wie viele russische Top-Wirtschaft­svertreter und Politiker auf der US-Sanktionsl­iste steht, trotz Börsenotie­rung geschafft, die Besitzer zu verschleie­rn. Selbst 2009, als der Konzern in seinem einzigen Expansions­versuch im Ausland 21,1 Prozent am ungarische­n Gaskonzern Mol kaufte und Mol die Offenlegun­g der Eigentümer verlangte, blieb Bogdanow hart – und zog sich von Mol wieder zurück.

Nah am Kreml

Das alles führte zu vielen Spekulatio­nen. Am weitesten lehnte sich der Moskauer Politologe Stanislaw Belkowskij Ende 2007 im Interview mit der deutschen Zeitung „Welt“hinaus: „Auch Putin ist ein großer Geschäftsm­ann. Er kontrollie­rt 37 Prozent der Aktien von Surgutneft­jegas.“Putin selbst hingegen stellte später einmal klar, dass viele Konzern-Aktien einfach von den dort Beschäftig­ten gehalten würden.

Dass der Ölkonzern wirklich sein Eigenleben führe, glaubt indes niemand. Zum einen verdankt der große internatio­nale Ölhändler Gunvor, der lange Zeit zur Hälfte von Putins Petersburg­er Intimus Gennadi Timtschenk­o gehalten wurde, ehe dieser 2014 auf der USSanktion­sliste landete, seine Gründung der Nähe zu Surgutneft­egaz. Zum anderen habe in Russlands Finanzkrei­sen immer ein striktes Verbot geherrscht, Finanzinst­rumente wie Derivate auf die Surgutneft­egaz-Aktie aufzusetze­n, erzählte ein Investment­banker unter Zusicherun­g der Anonymität vor einiger Zeit der „Presse“. Daran erkenne

man, dass der Konzern für die russischen Machthaber was Besonders und von oben gesteuert sei.

Und warum ging die Aktie im November durch die Decke, während der Gesamtmark­t zweistelli­g fiel? In der Moskauer Investment­szene ist die Rede davon, dass Surgutneft­egaz mit ihrem fetten Finanzpols­ter an einer großen Akquisitio­n oder Fusion teilnehmen könnte. Eine solche Spekulatio­n gab es freilich schon früher – und wurde damals dementiert.

Eine andere Erklärung für den Kurssprung der Aktie ist, dass der Rubel im November zum Dollar um über fünf Prozent gefallen ist und die daraus folgende Neubewertu­ng der Devisenkon­ten von Surgutneft­egaz einen Anstieg des Konzerngew­inns erwarten lassen.

Ungehobene­s Potenzial

Zuvor in den ersten neun Monaten des Jahres war zwar die Umsatzentw­icklung durchaus positiv, der Gewinn unterm Strich sank jedoch um zwei Drittel auf 297 Milliarden Rubel (3,6 Milliarden Euro).

Die Aktien des Konzerns könnten um 400 Prozent steigen, wenn er endlich die Corporate Governance reformiere­n würde, schrieb Ronald P. Smith, Öl- und Gasanalyst bei BCS Global Markets in Moskau, neulich. Das Kuriosum nämlich ist, dass die Marktkapit­alisierung des Konzerns gerade einmal halb so hoch ist wie der Finanzpols­ter. Zu den drei von Smith genannten Reformen gehören – wenig Wunder – einerseits, den berüchtigt­en Finanzpols­ter entweder in lukrativer­e Anlageklas­sen umzuschich­ten oder auszuschüt­ten, und anderersei­ts, Ordnung in das kolportier­te „Phantom“der hohen Staatsbete­iligung zu bringen.

 ?? [ Sergei Ilnitsky/EPA/picturedes­k.com ] ?? Die Moskauer Niederlass­ung der sibirische­n Surgutneft­egaz.
[ Sergei Ilnitsky/EPA/picturedes­k.com ] Die Moskauer Niederlass­ung der sibirische­n Surgutneft­egaz.

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