Der anormalste Ölkonzern
Öl. Die russische Surgutneftegaz hortet 52 Mrd. Dollar auf Konten. Und es ist unklar, wem sie gehören. Analysten geben der Aktie 400 Prozent Potenzial.
Moskau/Wien. Nur ab und zu macht er von sich reden. Dann aber ganz plötzlich und aufsehenerregend. Zuletzt Mitte November. Und zwar in Form seiner Aktie. Diese schoss binnen dreier Tage um 49 Prozent in die Höhe. Das wäre schon bei einer jungen Firma, mit der Spekulanten spielen, extrem. Umso mehr bei einem Traditionskonzern.
Aber Surgutneftegaz mit ihren 111.800 Mitarbeitern ist nun einmal kein gewöhnlicher Fall. Surgutneftegaz, die für elf Prozent der russischen Ölförderung steht, ist anders. Obwohl sie der drittgrößte Ölkonzern im Land ist, gibt sie bis heute große Rätsel auf. Das größte unter ihnen: Warum hortet der Konzern, beheimatet im westsibirischen Tiefland am Fluss Ob, so viele freie Geldmittel? Und zwar auf kurzfristigen und langfristigen Devisenkonten, die immerhin stabile Zinserträge bringen und so satte 20 Prozent zum Ergebnis vor Steuern und über 40 Prozent zum freien Cashflow beitragen. Auf ganze 3,8 Billionen Rubel (52 Milliarden Dollar) beläuft sich der Finanzpolster. Gewiss, im Vergleich etwa zu einem US-Techkonzern wie Apple ist das zwar gerade einmal ein Viertel. Aber in Russland und innerhalb des klassischen Industriesektors auch europaweit findet sich so gut wie kein Unternehmen, das hierin auch nur annähernd an Surgutneftegaz heranreichen würde.
Der „sibirische Einsiedler“
Für den Markt ist ziemlich unverständlich, was dieses Finanzverhalten und diese Strategie eigentlich sollen. Pläne zur milliardenschweren „Sparkasse“seien unbekannt, sagten die Analysten der Investgesellschaft BKS zum Wirtschaftsportal RBK kürzlich lapidar.
Vor einigen Jahren hat Wladimir Bogdanow, der die Leitung der einst staatlichen Ölgesellschaft bereits 1984 übernommen und nach deren Privatisierung 1993 gemeinsam mit Managerkollegen beibehalten hat, einmal angedeutet, dass der Grund für die Sparsamkeit in der Not der 1990er-Jahre liege: „Diese Gelder sind ein Absicherungsmechanismus“, sagte der heute 70-Jährige, der vom Magazin „Forbes“auf ein Vermögen von zwei Milliarden Dollar geschätzt und ob seiner Zurückgezogenheit und Medienscheu der „sibirische Einsiedler“genannt wird, auf eine diesbezügliche Frage: „Niemand
weiß, was mit dem Ölpreis wird.“Der Markt seinerseits weiß nicht einmal, wem Surgutneftegaz gehört. Über alle Jahre hat es der „Einsiedler“Bogdanow, der seit 2018 wie viele russische Top-Wirtschaftsvertreter und Politiker auf der US-Sanktionsliste steht, trotz Börsenotierung geschafft, die Besitzer zu verschleiern. Selbst 2009, als der Konzern in seinem einzigen Expansionsversuch im Ausland 21,1 Prozent am ungarischen Gaskonzern Mol kaufte und Mol die Offenlegung der Eigentümer verlangte, blieb Bogdanow hart – und zog sich von Mol wieder zurück.
Nah am Kreml
Das alles führte zu vielen Spekulationen. Am weitesten lehnte sich der Moskauer Politologe Stanislaw Belkowskij Ende 2007 im Interview mit der deutschen Zeitung „Welt“hinaus: „Auch Putin ist ein großer Geschäftsmann. Er kontrolliert 37 Prozent der Aktien von Surgutneftjegas.“Putin selbst hingegen stellte später einmal klar, dass viele Konzern-Aktien einfach von den dort Beschäftigten gehalten würden.
Dass der Ölkonzern wirklich sein Eigenleben führe, glaubt indes niemand. Zum einen verdankt der große internationale Ölhändler Gunvor, der lange Zeit zur Hälfte von Putins Petersburger Intimus Gennadi Timtschenko gehalten wurde, ehe dieser 2014 auf der USSanktionsliste landete, seine Gründung der Nähe zu Surgutneftegaz. Zum anderen habe in Russlands Finanzkreisen immer ein striktes Verbot geherrscht, Finanzinstrumente wie Derivate auf die Surgutneftegaz-Aktie aufzusetzen, erzählte ein Investmentbanker unter Zusicherung der Anonymität vor einiger Zeit der „Presse“. Daran erkenne
man, dass der Konzern für die russischen Machthaber was Besonders und von oben gesteuert sei.
Und warum ging die Aktie im November durch die Decke, während der Gesamtmarkt zweistellig fiel? In der Moskauer Investmentszene ist die Rede davon, dass Surgutneftegaz mit ihrem fetten Finanzpolster an einer großen Akquisition oder Fusion teilnehmen könnte. Eine solche Spekulation gab es freilich schon früher – und wurde damals dementiert.
Eine andere Erklärung für den Kurssprung der Aktie ist, dass der Rubel im November zum Dollar um über fünf Prozent gefallen ist und die daraus folgende Neubewertung der Devisenkonten von Surgutneftegaz einen Anstieg des Konzerngewinns erwarten lassen.
Ungehobenes Potenzial
Zuvor in den ersten neun Monaten des Jahres war zwar die Umsatzentwicklung durchaus positiv, der Gewinn unterm Strich sank jedoch um zwei Drittel auf 297 Milliarden Rubel (3,6 Milliarden Euro).
Die Aktien des Konzerns könnten um 400 Prozent steigen, wenn er endlich die Corporate Governance reformieren würde, schrieb Ronald P. Smith, Öl- und Gasanalyst bei BCS Global Markets in Moskau, neulich. Das Kuriosum nämlich ist, dass die Marktkapitalisierung des Konzerns gerade einmal halb so hoch ist wie der Finanzpolster. Zu den drei von Smith genannten Reformen gehören – wenig Wunder – einerseits, den berüchtigten Finanzpolster entweder in lukrativere Anlageklassen umzuschichten oder auszuschütten, und andererseits, Ordnung in das kolportierte „Phantom“der hohen Staatsbeteiligung zu bringen.