Als das Burgenland sein Herz verlor
100 Jahre Burgenland. Das neue Bundesland fiel den Österreichern nicht einfach in den Schoß. Es musste erkämpft werden, der Verlust Ödenburgs war eine schwere Enttäuschung.
In Ödenburg soll eine Volksabstimmung stattfinden, ob die Stadt bei Ungarn bleiben oder mit dem übrigen Burgenlande zu Österreich kommen will.“Für die Zeitung „Der freie Burgenländer“war die Situation im November 1921 angespannt, denn: „Ödenburg ist der Kopf, das Burgenland der Leib. Der Kopf kann ohne den Leib und der Leib kann ohne den Kopf nicht leben. Darum muss Ödenburg dem Leib folgen und zu Österreich kommen.“Gehe es bei der Volksabstimmung halbwegs mit rechten Dingen zu, wäre der Weg geebnet. „Wenn aber das Unmögliche geschähe, wenn sich in dem Ödenburger Abstimmungsgebiet eine Mehrheit für Ungarn fände, so würde damit ein Zustand geschaffen, der einer schwärenden Wunde gliche, die nimmer heilen will.“
Noch einmal musste also das neue Bundesland Burgenland kämpfen, diesmal um seine wichtigste Stadt, die „Hauptstadt der Herzen“, wie man sagte. Die Friedensverhandlungen von Saint Germain 1919 hatten für das zum Kleinstaat gewordene Österreich mit einem Schock geendet, nicht aber, was den östlichen Landesteil betrifft: Hier kam sogar ein Landstrich dazu, zum Teil im Sinne der Forderungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: „Die geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete der Komitate Preßburg, Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg gehören geografisch, wirtschaftlich und national zu Deutschösterreich, stehen seit Jahrhunderten in innigster wirtschaftlicher und geistiger Gemeinschaft mit Deutschösterreich und sind insbesondere der Stadt Wien zur Lebensmittelversorgung unentbehrlich.“
Das Burgenland als Trostpflaster
Nach Meinung der Österreicher waren dies schlagende Argumente, man formulierte sie in einer Staatserklärung vom 22. November 1918, und mit ihnen fuhr die österreichische Delegation, angeführt von Kanzler Karl Renner, zu den Pariser Friedensverhandlungen 1919, wo auch die Burgenland-Frage entschieden werden sollte. Hier wurden die ungarischen Forderungen durchwegs negativ beschieden, die neuen Nachbarstaaten Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien hoben nicht nur den alten ungarischen Chauvinismus hervor, sondern auch den Bolschewismus der gerade amtierenden Räteregierung. Damit förderten sie die Kommunistenfurcht bei den Alliierten. Sie legten daher schon Mitte Juni 1919 die künftigen
Grenzen Ungarns fest, durch den Friedensvertrag in Trianon vom 4. Juni 1920 wurde Ungarn zu einem Kleinstaat, die Bevölkerung von 20,9 auf 7,6 Millionen reduziert. Eine Schmach, die kein Ungar hinnehmen wollte.
Die Gebietsverluste an der Westgrenze zu Österreich galten als besonders entwürdigend. Man hielt das Vorgehen Österreichs, mit dem man so lang einen gemeinsamen Staat gebildet hatte, für infam und dachte nicht ans Aufgeben. Umgekehrt hätte in Wien ein Verzicht auf diesen einzigen Gewinn des Pariser Vertrags (etwa wegen der Handelsbeziehungen mit Ungarn) unweigerlich das Ende der österreichischen Regierung bedeutet. 1921 spitzte sich die Lage im Burgenland daher auch militärisch zu. Ungarische Freischärler machten den verteidigungsschwachen Österreichern das Leben schwer, und man wandte sich an die Alliierten um Hilfe.
Österreichs Lage war mehr als düster geworden, es drohte Chaos oder gar Krieg mit dem Nachbarn. So kam ein Vermittlungsversuch Italiens gelegen. In einem Venediger Protokoll wurde Ungarn zur Übergabe des Burgenlands an Österreich verpflichtet, dafür sollte im umstrittenen Gebiet von Ödenburg/Sopron ein Plebiszit abgehalten werden. Österreich musste auf den italienischen Kompromissvorschlag eingehen, sonst hätte ein langdauernder Streit in der BurgenlandFrage gedroht. Auch die überlebensnotwendigen Finanz- und Kreditverhandlungen mit dem Genfer Völkerbund drohten dann zu stagnieren. Zunächst musste aber Frieden herrschen, die Freischärlerbanden abziehen aus dem Gebiet. Hier entfalteten nun die Ungarn ab dem November 1921 eine rege Werbetätigkeit.
Hat die eigene Regierung hier Österreichs Bevölkerung etwas vorgemacht? Man liest in einer vertraulichen Denkschrift: „Die Volksabstimmung ist natürlich Komödie . . . Jeder Mensch weiß, dass es Ungarn nicht interessiert, die wahre Meinung der Ödenburger
Bevölkerung zu erfahren, sondern dass es Ödenburg haben will, ohne Rücksicht darauf, ob es den Ödenburgern recht ist oder nicht“(zitiert von Burgenland-Historiker Gerald Schlag). Einer der italienischen Vertreter bei den Verhandlungen, Carlo Antonio Ferrario, argumentierte in seinen Erinnerungen auch so: Die Volksabstimmung bedeute de facto einen „Verzicht Österreichs, der durch einen legalen Akt verschleiert werden sollte“.
Manipulierte Volksabstimmung
Am 14. Dezember fand die Abstimmung in der Stadt Ödenburg, am 16. in den umliegenden Landgemeinden statt. Sie ergab eine Mehrheit von 65,08 Prozent für Ungarn. Sie war erreichbar geworden durch massive Propaganda und Manipulation. Ungarische Studenten und Soldaten wurden als Stimmvieh herangekarrt, Verstorbene mitgezählt, „gröbste Unrichtigkeiten“stellten die Österreicher fest, die offiziell Protest einlegten und eine Wiederholung forderten. Doch das war aussichtslos.
Das Burgenland hatte durch diese Volksabstimmung seine „natürliche Hauptstadt“verloren (den Begriff „heimliche Hauptstadt“verwendete Landeshauptmann Theodor Kery noch in den 70er-Jahren). Es verlor damit einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt und Wien einen Teil seines „Gemüsegartens“, 15.000 „Bohnzüchter“gehörten nun nicht mehr dazu. Ein weiterer Tiefschlag für das verarmte und hungernde Land, nach dem Verlust Südtirols und des Kanaltals, nach dem erzwungenen Verzicht auf die deutschsprachigen Gebiete Böhmens und Mährens. Am 1. Jänner 1922 erhielt Ungarn die vollen Herrschaftsrechte über das Ödenburger Gebiet.
Die Debatte um eine eigene Hauptstadt für das Burgenland zog sich. Noch 1924 trauerte man um Ödenburg, das da bereits Sopron hieß. Eisenstadt gewann das Rennen, doch erst 1981 wurde es als Hauptstadt in die Landesverfassung aufgenommen.