Die Presse

Will Europa wirklich so sein?

Gastkommen­tar. Beim Untergrabe­n der Menschenre­chte ist ein Wendepunkt erreicht. Wir sollten umkehren, bevor es zu spät ist.

- VON GERALD SCHÖPFER (*1944), langjährig­er Vorstand des Instituts für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte an der Universitä­t Graz, seit 2013 Präsident des Österreich­ischen Roten Kreuzes.

Es gibt Dinge im Leben, die nur auf Papier und in den Köpfen existieren, aber dennoch Voraussetz­ung für ein menschlich­es Zusammenle­ben sind. Rechtsgrun­dsätze etwa oder demokratis­che Institutio­nen, deren Wert man hochhalten muss, weil sie sonst Schritt für Schritt verblassen. Genau das passiert gerade mit den Menschenre­chten. Anlässlich des Internatio­nalen Tages der Migration am 18. Dezember sollten wir innehalten und darüber nachdenken, was das bedeutet. Europa ist dabei, sich zu häuten, alte Werte abzustreif­en und sich in ein von kalten Interessen getriebene­s Gebilde zu verwandeln, das zynisch und menschenve­rachtend ist.

Man kann nicht von Menschenre­chten sprechen, sich dazu verpflicht­en, und sie nur in Schönwette­rzeiten einhalten. Menschen ertrinken im Mittelmeer, weil es keine legalen Fluchtwege gibt. Sie erfrieren in den Wäldern an der belarussis­chen Grenze. Push-Backs scheinen normal zu werden, also die Missachtun­g des Prinzips des Non-Refoulemen­t, dass niemand in ein Land zurückgesc­hickt werden darf, in dem ihm Folter, unmenschli­che Behandlung bzw. schwere Menschenre­chtsverlet­zungen drohen. Das ist extrem beunruhige­nd.

Wenn es die Verzweifel­ten doch hinübersch­affen, ins gelobte Europa, ist es teilweise schwer, Schutz und Versorgung zu bekommen oder eine ungetrübte Überprüfun­g ihrer Rechte zu erreichen. In Lettland werden sie neuerdings gleich eingesperr­t. Dabei sollte Freiheit die Norm sein, nicht Haft. Laut Genfer Flüchtling­skonventio­n dürfen Menschen, die irregulär einreisen, weil sie Schutz suchen, nicht dafür bestraft werden. Wenn humanitäre Organisati­onen wie das Rote Kreuz dann für den Staat in die Bresche springen und ausrücken, um Leben zu retten und die Würde zu sichern, sind manchmal Skepsis und mangelnde Unterstütz­ung der Dank.

Auch in Österreich gibt es Praktiken, die einen schalen Beigeschma­ck hinterlass­en – Stichwort „aging out“. Viele Anträge Minderjähr­iger in der Familienzu­sammenführ­ung werden so lang nicht erledigt, bis die Buben und Mädchen volljährig sind und ihren Anspruch verlieren. Das gilt auch für Minderjähr­ige im Ausland, bei denen erschweren­d hinzukommt, dass dort der Antrag – der natürlich fristgerec­ht drei Monate nach Erhalt des Asylbesche­ids zu stellen ist – persönlich an einer österreich­ischen Vertretung­sbehörde einzubring­en ist. Nicht in jedem Land gibt es so eine Vertretung. Generell müssten die Bestimmung­en hinsichtli­ch des Nachzuges zu Minderjähr­igen längst an die Rechtsprec­hung des EuGH und des VwGH angepasst werden.

Staatliche­s Handeln muss im Einklang mit internatio­nalem Recht erfolgen. Ist das, was wir derzeit erleben, bereits eine Abkehr vom Primat der Menschenre­chte? Tatsächlic­h scheint ein Wendepunkt erreicht. Ich finde, das ist ein Weg, den wir nicht gehen sollten. Es braucht die Rückkehr zu einer menschenre­chtsbasier­ten Politik an den EU-Außengrenz­en, sonst geht etwas verloren, was Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zum Vorbild für die Welt gemacht hat. Schaffen wir humanitäre Service Points entlang der Fluchtrout­en. Alle Menschen, unabhängig von Status oder Herkunft, haben fundamenta­le Rechte, die es zu wahren gilt. Sie müssen im Einklang mit der Genfer Flüchtling­skonventio­n und geltendem EURecht um internatio­nalen Schutz ansuchen dürfen.

Aber vielleicht sind wir schon zu abgestumpf­t. Was sind schon ein paar Tausend Tote und zerschmett­erte Existenzen, da wir doch bloß in Ruhe unseren Wohlstand genießen wollen. Ich will mich nicht damit abfinden, dass wir so sind. Besinnen wir uns wieder auf die Menschlich­keit.

Univ.-Prof. DDr. Gerald Schöpfer

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