Will Europa wirklich so sein?
Gastkommentar. Beim Untergraben der Menschenrechte ist ein Wendepunkt erreicht. Wir sollten umkehren, bevor es zu spät ist.
Es gibt Dinge im Leben, die nur auf Papier und in den Köpfen existieren, aber dennoch Voraussetzung für ein menschliches Zusammenleben sind. Rechtsgrundsätze etwa oder demokratische Institutionen, deren Wert man hochhalten muss, weil sie sonst Schritt für Schritt verblassen. Genau das passiert gerade mit den Menschenrechten. Anlässlich des Internationalen Tages der Migration am 18. Dezember sollten wir innehalten und darüber nachdenken, was das bedeutet. Europa ist dabei, sich zu häuten, alte Werte abzustreifen und sich in ein von kalten Interessen getriebenes Gebilde zu verwandeln, das zynisch und menschenverachtend ist.
Man kann nicht von Menschenrechten sprechen, sich dazu verpflichten, und sie nur in Schönwetterzeiten einhalten. Menschen ertrinken im Mittelmeer, weil es keine legalen Fluchtwege gibt. Sie erfrieren in den Wäldern an der belarussischen Grenze. Push-Backs scheinen normal zu werden, also die Missachtung des Prinzips des Non-Refoulement, dass niemand in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem ihm Folter, unmenschliche Behandlung bzw. schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das ist extrem beunruhigend.
Wenn es die Verzweifelten doch hinüberschaffen, ins gelobte Europa, ist es teilweise schwer, Schutz und Versorgung zu bekommen oder eine ungetrübte Überprüfung ihrer Rechte zu erreichen. In Lettland werden sie neuerdings gleich eingesperrt. Dabei sollte Freiheit die Norm sein, nicht Haft. Laut Genfer Flüchtlingskonvention dürfen Menschen, die irregulär einreisen, weil sie Schutz suchen, nicht dafür bestraft werden. Wenn humanitäre Organisationen wie das Rote Kreuz dann für den Staat in die Bresche springen und ausrücken, um Leben zu retten und die Würde zu sichern, sind manchmal Skepsis und mangelnde Unterstützung der Dank.
Auch in Österreich gibt es Praktiken, die einen schalen Beigeschmack hinterlassen – Stichwort „aging out“. Viele Anträge Minderjähriger in der Familienzusammenführung werden so lang nicht erledigt, bis die Buben und Mädchen volljährig sind und ihren Anspruch verlieren. Das gilt auch für Minderjährige im Ausland, bei denen erschwerend hinzukommt, dass dort der Antrag – der natürlich fristgerecht drei Monate nach Erhalt des Asylbescheids zu stellen ist – persönlich an einer österreichischen Vertretungsbehörde einzubringen ist. Nicht in jedem Land gibt es so eine Vertretung. Generell müssten die Bestimmungen hinsichtlich des Nachzuges zu Minderjährigen längst an die Rechtsprechung des EuGH und des VwGH angepasst werden.
Staatliches Handeln muss im Einklang mit internationalem Recht erfolgen. Ist das, was wir derzeit erleben, bereits eine Abkehr vom Primat der Menschenrechte? Tatsächlich scheint ein Wendepunkt erreicht. Ich finde, das ist ein Weg, den wir nicht gehen sollten. Es braucht die Rückkehr zu einer menschenrechtsbasierten Politik an den EU-Außengrenzen, sonst geht etwas verloren, was Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zum Vorbild für die Welt gemacht hat. Schaffen wir humanitäre Service Points entlang der Fluchtrouten. Alle Menschen, unabhängig von Status oder Herkunft, haben fundamentale Rechte, die es zu wahren gilt. Sie müssen im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und geltendem EURecht um internationalen Schutz ansuchen dürfen.
Aber vielleicht sind wir schon zu abgestumpft. Was sind schon ein paar Tausend Tote und zerschmetterte Existenzen, da wir doch bloß in Ruhe unseren Wohlstand genießen wollen. Ich will mich nicht damit abfinden, dass wir so sind. Besinnen wir uns wieder auf die Menschlichkeit.
Univ.-Prof. DDr. Gerald Schöpfer