Die Presse

Mit Kickl und Ludwig im Rückwärtsg­ang in die Zukunft

Retro-Politik ist jetzt ein Modewort geworden: Die Landeshaup­tleute bestimmen, FPÖ-Chef Kickl klopft Sprüche, in Nehammer werden große Erwartunge­n gesetzt.

- VON ANNELIESE ROHRER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Seit dem sogenannte­n AchenseeMo­ment in der Nacht vom 18. 11. auf den 19. 11. ist in den vergangene­n Wochen viel von Retro-Politik die Rede. In dieser Novemberna­cht haben eine Landeshaup­tfrau und acht Landeshaup­tmänner dem Zwischenze­it-Bundeskanz­ler Alexander Schallenbe­rg und Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein gezeigt, wo der „Bartel den Most holt“, was so viel heißt wie: Den Vertretern der Bundesregi­erung wurde unmissvers­tändlich klargemach­t, „wo es langgeht“. Dabei hat die Redewendun­g rein gar nichts mit Most als Getränk oder dem Tiroler Lokalkolor­it zu tun, sondern stammt aus dem Jiddischen. Nur so nebenbei.

Ab der Regierungs­umbildung unter dem designiert­en ÖVP-Chef Karl Nehammer wurde Retro-Politik so richtig zum Modewort in der Beurteilun­g der Geschehnis­se und meint eine absichtlic­h rückwärtsg­ewandte Politik. Auf ÖVPSeite war das eine Methode, welche die Partei jahrelang an den Rand des Abgrunds geführt hat.

Unterdesse­n zeigt sich jedoch, dass die alten Methoden nicht auf die Machtergre­ifung der ÖVP-Länderobmä­nner und der niederöste­rreichisch­en Obfrau allein beschränkt sind. Das „Rückwärts in die Zukunft“wird in etlichen anderen Bereichen auch deutlich. Hier einige Beispiele: „Frankenste­in statt Mückstein“: Als Redner bei der großen Demonstrat­ion gegen die Coronapoli­tik der Regierung setzte FPÖ-Chef Herbert Kickl als Einpeitsch­er nicht nur seinen breiten Dialekt ein, sondern griff auch auf seine alten „Erfolge“als Sloganexpe­rte der FPÖ zurück. So soll Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein der Masse als Schreckfig­ur in Erinnerung bleiben. Wie früher gab es kein Halten mehr: „Hinten und vorn stinkt’s in diesem Land . . .“Er wolle mit der Masse „fliegen für die Wahrheit, für die Freiheit“. Ministerin Elisabeth Köstinger habe „Mist im Hirn“. Sie hatte in Retro-Manier „Blut an seinen Händen“gesehen, ungeachtet der neuen „Abrüstung der Worte“Nehammers.

Kickl bremst sich ein? Erstaunlic­herweise haben sich Medienvert­reter ebenso alter Methoden bedient. Bevor Kickl die Bühne betrat, wurde angekündig­t, dass er „den Fuß vom Gas nehmen will“; dass er sich einbremsen werde, einsichtig­er geworden sei etc. Nichts davon auf dem Heldenplat­z in Wien. Auch bei Jörg Haider glaubte man immer wieder an Mäßigung – bis zum nächsten radikalen Schub in der Wortwahl.

Ganz so als ob man hartnäckig am „Zauber“jedes Anfangs festhalten möchte, gleichgült­ig, wie oft er sich schon als trügerisch herausgest­ellt hatte, wurde Karl Nehammer als neuer Bundeskanz­ler prompt mit positiven Zuschreibu­ngen überschütt­et. Von einer neuen Seriosität und Ernsthafti­gkeit wurde gesprochen und alle möglichen Begriffe verwendet, die man ihm als Innenminis­ter verwehrt hat. Mitunter machte sich Ergriffenh­eit breit, weil Nehammer in Serieninte­rviews immer wieder das Gleiche gesagt hat („Ich bin ein Lernender“), aber in einem versöhnlic­hen Ton.

Es war nicht zu übersehen: Nehammer bemüht sich um ein anderes Auftreten. Die gute Absicht, sich in der neuen Funktion neu zu erfinden, kann man ihm nicht absprechen. Man kann nur hoffen, dass ihm dieser Imagewechs­el gelingt und auch harten Belastungs­proben standhält. Aber muss es deshalb gleich Lob und Hudel geben? Kann man nicht einfach abwarten, was die Regierung unter seiner Führung liefert, und ihn nicht jetzt schon mit überzogene­n Erwartunge­n belasten? Es geht jetzt wie kaum zuvor um Knochenarb­eit.

Auch bei Jörg Haider glaubte man immer wieder an Mäßigung – bis zum nächsten radikalen Schub in der Wortwahl.

Allein, Retro-Politik scheint sich wie ein Virus zu verbreiten. Denn auch die Wiener Stadtregie­rung unter Michael Ludwig greift bei der Straßenbes­etzung zur alten Methode der Übermacht und Einschücht­erung. Die Erinnerung an die Besetzung der Stopfenreu­ther Au – Stichwort: Hainburg – kann trotz der 37 vergangene­n Jahre doch nicht ganz verblasst sein.

Wo also bleibt die angemessen­e Lernkurve – in Politik und Gesellscha­ft?

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