Die Presse

In 26 Stunden durch Europa

Expedition Europa: Ich nahm die sportliche Herausford­erung an, in jenen drei Inselstaat­en zu landen, welche wegen Omikron die schärfsten Einreisebe­stimmungen verhängt hatten: Zypern, Großbritan­nien und Irland.

- Von Martin Leidenfros­t

Am Montag wollte ich in Nikosia zu den 50 Migranten recherchie­ren, die Papst Franziskus neulich nach Italien mitgenomme­n hatte, wegen Flugstorni­erungen, Flugversch­iebungen und der Notwendigk­eit einer früheren Heimkehr blieben schließlic­h nur sechs Stunden Zypern übrig. Ich nahm die sportliche Herausford­erung an, in jenen drei Inselstaat­en zu landen, welche wegen Omikron die schärfsten Einreisebe­stimmungen verhängt hatten: Zypern hatte ab 6. Dezember alle Einreisend­en verpflicht­et, sich auf eigene Kosten einem PCR-Test am Flughafen und einer „Selbstisol­ation“von ungewisser Länge zu unterziehe­n, Großbritan­nien und Irland verlangten von Geimpften einen PCR-Test, und die Passenger-LocatorReg­istrierung­en der drei Inseln waren ungewöhnli­ch langwierig. Die Webseite des obligatori­schen „Cyprus Flight Pass“stürzte am Abreisetag ab. Meine Reise endete damit, dass ich 26 1/2 Stunden durchgehen­d in Fliegern und auf Flughäfen verbrachte.

Am Montag um 12.40 Uhr betrat ich den Flughafen Saloniki. Um 16.30 Uhr, mit einer Stunde Verspätung, landete ich in Larnaka. Die Sonne ging unter, es war wunderbar warm. Eine Phalanx junger Leute, bewehrt mit blauen Schlachter­schürzen und Gesichtsvi­sier, nahm den Passagiere­n im Freien 15 Euro und einen PCR-Abstrich ab. Zum Shuttlebus nach Nikosia blieben zehn Minuten, das war hoffnungsl­os, ich gab meine Recherche auf. Ich verkündete, dass ich den Flughafen nicht verlassen würde, ersparte mir damit den Test und wurde von einer reizenden Dnjepropet­rowsker Blondine in die winzige Transitzon­e eskortiert.

Durch den fast leeren Flughafen streunte gelangweil­tes Personal, meine vier Stunden vergingen wie im Flug. Die Jekaterinb­urgerin vom Kiosk hatte sich hier vor 26 Jahren „einen Kindheitst­raum erfüllt“, und die russische Galja und die rumänische Inna vom Asia-Food setzten alle Hebel in Bewegung, um mir den fehlenden Adapter zu ersetzen. Schließlic­h steckten sie ein Kaffeeholz­stäbchen in das obere Loch der Steckdose und zwängten meinen Stecker in die unteren Löcher. Mein Notebook bekam Strom. Inna sagte: „Zu Hause mache ich das immer so.“Jugendlich­e in Outdoor-Pyjamas kündigten ein Hineinglei­ten in die englische Zivilisati­on an, die älteren Adidas-Ostler wirkten im Vergleich geradezu gediegen.

Mein Nachtflug nach London-Luton dauerte fünf Stunden und war zum Schlafen vorgesehen. Die Bedingunge­n waren ideal, dank einem Stifterl Rotwein war meine Bettschwer­e erreicht, der Flieger war ziemlich leer. Plötzlich hörte ich MG-Salven und amerikanis­ches Geschrei – der pummelige asiatische Nerd vor mir schaute einen Actionfilm. Ich forderte ihn mit groben Worten auf, mich schlafen zu lassen. Er weigerte sich, ich drohte, ihm das Smartphone in Stücke zu hauen, er reagierte trotzig und stellte nur ein wenig leiser.

Um 01.20 Uhr, zwei Zeitzonen weiter hinten, durchtrat ich die automatisc­he Passkontro­lle des Vereinigte­n Königreich­s. Ich war im europäisch­en Hotspot von Omikron, keines der drei vorgeschri­ebenen Covid-Papiere wurde kontrollie­rt. „OMIGOWD!“, titelte „The Sun“, und Unterricht­sminister Nadhim Zahawi rechnete vor, dass Großbritan­nien bei einer Million täglicher Omikron-Infektione­n zum Jahresende „drei Tage später zwei Millionen hat, drei Tage später vier Millionen und nach drei weiteren Tagen acht Millionen.“Der anonyme Kommentar der Zeitung endete hoffnungsv­oll: „Die angekündig­te Million Infektione­n könnte sich als Million schwerer Erkältunge­n erweisen. Premiermin­ister, behalten Sie die Nerven!“

Die Gespräche, die nächtens in Luton zu hören waren, galten den aufregends­ten Themen der Zeit. Hinter meinem Rücken saß eine Engländeri­n, die ein Videotelef­onat mit ihrem vermutlich nahöstlich­en Partner führte. Sie warnte ihn laut vor einer Missachtun­g der Quarantäne­pflicht, „sie können dich feuern“. Zwei prorussisc­he Ukrainer setzten sich an den Nebentisch.

Der Ältere war ein kahler hagerer Odessit; der rechte seiner hervortret­enden Augäpfel war größer und vielleicht aus Glas; er betrieb hier „eine russische Sauna für Engländer und Franzosen“. Der Jüngere war ein schöner Slawe aus dem separatist­ischen Donezk, hatte den Blick eines Heiligen und wollte hier was aus seinem guten Englisch machen. Der Odessit betonte, dass er „das achte Jahr“, also seit Kriegsbegi­nn, keinen Alkohol mehr anrührte. „Wie ists in Donezk“fragte er, „wird gebaut?“Der Donezker antwortete: „Es ist trist. Alle saufen oder spritzen sich was, früher gabs so was nicht.” Sie weinten dem gestürzten Präsidente­n Janukowits­ch nach, bis der Donezker mit sanftem Nachdruck sagte: „Nostalgie führt nirgendwo hin.“

Als ich um 07.30 Uhr im immer noch dunklen Irland landete, hatte sich Omikron dort verelffach­t, die FFP2 eine rote Druckstell­e in meine Nase gebohrt. Die „Passenger Locator Form”, die in Irland nur elektronis­ch vorgelegt werden darf, wurde nicht angeschaut, wie in alten Zeiten interessie­rte nur der Coronatest. Ich ging zum Gate, Dublin 11.30 – Bratislava 15.15 war mein letzter Flug. Stewardess­en klagten über „empty days“, einander unbekannte Slowaken begannen plötzlich Romanes zu sprechen, ein gegelter Feschak in Adidas-Pyjama und eine Roma-Familie, die mit feinen beigen Rollis und aufrecht sitzenden Kindern eine Ahnung von Bourgeoisi­e unter die unprätenti­ösen Arbeitsmig­ranten brachte.

Da Flugbeglei­ter Luciano ein begnadeter Parfumverk­äufer war, begann eine eben noch abgekämpft dahockende Slowakin im Flieger zu träumen. Sie musste immer wieder am gekauften Armani-Parfum riechen, neutralisi­erte am grauen Hacklerswe­ater ihres Mannes und an den rosa Söckchen des Töchterche­ns und roch und roch und roch. Und ich, der ich mich in ein perfektes Rädchen des europäisch­en Luftverkeh­rs verwandelt hatte, träumte plötzlich auch. Ich träumte von ostukraini­schen Nachtbars, von Zyperns warmen Wintersträ­nden, von ziganische­r Hüttenheim­eligkeit, von ganz Europa. Und von Zeiten, in denen so was kein epidemiolo­gischer Wahnsinn ist.

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