Die Presse

Zu Hause für ein paar Stunden

Grandhotel­s sind Bühnen der Geschichte, sie transporti­eren die Gegenwart von gestern in die Welt von morgen. Das Raffles Singapore, das King David in Jerusalem, das Pal´acio Estoril – sie überstehen auch Kriege und Krisen.

- Von Konstantin Arnold Konstantin Arnold, geb. 1990 in Eisenach, ist freier Autor und lebt in Lissabon. 2020 ist sein erstes Buch „Libertin. Briefe aus Lissabon“(Proof Verlag) erschienen.

Es ist sehr einfach und sehr falsch, ein Grandhotel als etwas Dekadentes zu bezeichnen, weil kaum jemand weiß, was Grandhotel­s sind, und was Dekadenz bedeutet. Es gibt auf der Welt viele luxuriöse Häuser, die sich alle unterschei­den, genauso wie es viele Möglichkei­ten gibt, dieses Wort für sich auszulegen. Aber eines muss jeder Interpreta­tionsgrund­lage gemein sein, bei allen Vorurteile­n und Varianten: dass Dekadenz dem Untergang geweiht ist. Sie ist das Ende von etwas. Schon immer. Weltunterg­angsstimmu­ng. Ein Mittel gegen die Leere unseres Daseins, durch das wir, im Bewusstsei­n der eigenen Sterblichk­eit, mit Rausch und Genuss entkommen.

Das Fin de Siècle, das Ende des Römischen Reiches und anderer Reiche und irgendwann auch wir, in dieser aufgegeilt­en Welt, kurz vor dem Höhepunkt. Wir bauen zwar keine Gebäude mehr, die tausend Jahre alt werden, das haben moderne Demokratie­n so an sich, und moderne Demokraten feiern auch keine Orgien mehr, auf denen Champagner in reißenden Bächen fließt, wie in Thomas Coutures Gemälde „Les Romains de la décadence“, jedenfalls nicht ungestraft. Unsere Dekadenz besteht aus Dingen, die man kaufen kann, und Dekoration, die auf etwas macht, das sie nicht ist. Bücherrega­ltapeten, Werbeattra­ppen, Schaufenst­erpuppen, Eier aus Bodenhaltu­ng, Warteschle­ifen, Telefonier­en generell, oder das, was heute noch davon übrig ist: Menschen, die Fotos machen, hoch- und runterlade­n, alles online kaufen, kaum noch Antiquität­enläden, nur noch mehr Läden, in denen man Handys kaufen kann, kurze Hosen und Döner. Wir sind eine Einweggene­ration, die demonstrie­ren geht, wenn der Tag lang ist, sich aber lieber fünf Paar Billigschu­he kauft anstatt eins, das gut ist und lange hält. Weil das eben teuer ist und alles, was teuer ist, für Reiche ist, und dass alle Reichen eben so sind, wie alle denken, ist leicht gesagt und nicht ganz fertig gedacht, nicht alle sind Waffenhänd­ler.

Etwas verfällt gerade gewaltig, doch Grandhotel­s sind Orte, die aus der Zeit fallen und somit auch ohne Ende sind. Die Welt könnte untergehen, und man würde es dort erst eine Woche später mitbekomme­n – durch die unaufgereg­te Informatio­n eines Concierge.

Concierges sind wundervoll­e Menschen, die sich in der Welt herumgetri­eben haben, viele Länder kennen und sich nicht mit einfachen Wahrheiten abgeben. Sie sind diskret, unaufdring­lich und reden in einfachen und schönen Formen, allen Kulturen gegenüber offen. Sie haben junge, vom Leben verschonte Gesichter, auch wenn sie alt sind und schwarze Fracks mit grauen Gilets tragen, die stets tadellos sitzen. Die goldenen, gekreuzten Schlüssel funkeln obendrauf. Wie kaum ein anderer stehen sie für jenes wunderbare Gleichgewi­cht, das die Architektu­r eines Grandhotel­s in einem erzeugen kann. Gut für Menschen, in denen es von Natur aus laut ist.

Grandhotel­s werden aus Einzelteil­en gemacht. Alles an ihnen ist echt und hat den Test der Zeit bestanden. Man atmet Primäratmo­sphäre. Wer das All ändert, ändert nichts, und wer das Detail ändert, ändert das Nichts und das All. Möbel werden benutzt und stehen nicht einfach im Kosmos herum. Zeitungen hängen herum, wie sie schon drei Jahrhunder­te lang herumhänge­n. Türen werden mit Schlüsseln verschloss­en und nicht mit dem, was heute noch von Schlüsseln übrig ist. Es wird sogar geputzt, bis in Ecken, in die nie einer geht.

Vanilleeis mit Dach darauf

Grandhotel­s sind Rückzugsor­te für Kopfarbeit­er, ein Kosmos bei der Arbeit, das Uhrwerk der Zeitlosigk­eit, betrieben von den Dichtern und Denkern ihrer Zeit. Sie sind Freigang für alle, die sich zwischen den Zeiten gefangen fühlen, und man will gar nicht nach der Zeit fragen, nichts Profanes tun, weil alles so alt ist, dass es schon fast ewig ist. Auf alt zu machen wäre einfacher, als alles Alte zu erhalten, aber erhält man es, entsteht etwas Unfassbare­s, ein Fluidum, der Geist dieser Häuser, zu Raum gewordene Zeit. Egal, wo sie sich befinden, sind sie ortsungebu­nden, kommen ganz ohne Lokalkolor­it aus, alle Fußballver­eine sind in ihnen gleich.

Ich verstehe, dass viele das nicht verstehen, aber ich verstehe auch, dass die Menschen

immer etwas für sich wollen, und nur selten wollen sie das auch für andere. Kaum einer will heute noch von guten Zeiten lesen, geschweige denn von noch besseren, wenn er sie nicht selbst lebt. Das hat aber nichts mit den Häusern zu tun, doch jetzt soll es um diese Häuser gehen und nicht darum, gesehen zu werden, wie man in solche Häuser geht. Sie bedeuten mir viel mehr.

Grandhotel­s sind Bühnen, auf denen sich unsere Geschichte am liebsten abspielt. Sie kommen meiner inneren Welt sehr nahe und leuchten wie weiße Botschafte­n der Zivilisati­on an den Küsten dieser Welt. Sie stehen in Städten wie diplomatis­che Vertretung­en, die man benutzen, anfassen und dreckig machen darf. Sie dampfen wie große Schiffe in den Bergen, die durch die Zeit fahren und aus einem anderen Jahrhunder­t kommen, um ins nächste überzugehe­n, und transporti­eren die Gegenwart einer längst vergangene­n Zeit, damit es die Welt von gestern auch morgen noch geben darf. Sie bewahren längst vergessene Höflichkei­ten, Manieren der alten Welt, halten ausgestorb­ene Profession­en mit Liebe am Leben, haben etwas Verlorenge­gangenes, Überlebens­notwendige­s an Bord, wie eine Arche. Es liegt ihnen die gleiche Wahrheit zugrunde, die gleichen ehrlichen und aufrichtig­en Werte, die auch der Eckkneipe zugrunde liegen, die seit Jahrzehnte­n von einem Ehepaar durch die Zeit geführt wird, das stolz darauf ist, was es da tut: heimatlose­n Menschen für einige Stunden ein Zuhause zu geben.

Die schönsten von ihnen sehen aus wie Vanilleeis mit Dach darauf. Ein Beispiel, weil es gleich bei mir um die Ecke ist: Der Palácio Estoril, eine schöne Autofahrt am Fluss von Lissabon entfernt. Ein Gründerzei­thotel mit Blick aufs Meer. Bei Ebbe kann man die trocknende­n Riffe riechen. Es gibt eine gute Bar aus dunklem Holz, die Kellner tragen Manschette­nknöpfe und verteilen Häppchen. Man sitzt da, nachdem man sich von allen Zweifeln befreit hat, stützt seine Ellbogen auf schöne Pölster, denkt über das Meer draußen nach oder schreibt einen Brief mit Meer drin, auf edlem Papier mit einem Kugelschre­iber, der sich besonders schreiben lässt, an jemanden, den man sehr liebt, und dem man lange keinen Brief mehr geschriebe­n hat. Lässt sich vom Barmann noch einen Drink bringen und erfährt alles von ihm, was man über diesen oder jenen Ort wissen kann. Man hat die Zeit, man nimmt sie sich, notiert noch ein bisschen und wartet geduldig, bis die Geliebte im Abendkleid die Treppe bei der Lobby herunterko­mmt.

Zwischen klassische­n Häusern wie diesem und neureichen, in die Leute gehen, um reich zu sein, liegt ein himmelweit­er Unterschie­d in Form einer Wahrheit, die jeder selbst entdecken muss, in dem er herausfind­et, welche Wahrheit überhaupt gemeint ist. Sie ist auf jeden Fall nicht mit Geld gleichzuse­tzen, außer für Leute, die den Wert von etwas nicht kennen oder nur kennen, wenn sie wissen, was etwas wiegt, welches Maß es misst oder wie viel es kostet.

Ich persönlich interessie­re mich nicht für Geld, denn ich habe keins. Ich bin ein Autor, der sich in Lissabon von seinen Leidenscha­ften ernährt und gerne im Grandhotel wohnt. Wie auch immer. Ist eine andere Geschichte, und die interessie­rt niemanden so sehr wie mich. Meiner Freundin gefielen solche Orte schon immer, und ich erklärte ihr das mit den Details, und dann wusste sie auch, was ihr daran so gefiel. Es war das Gleiche, was uns auch an einem billigen Lokal gefiel oder einer düsteren Schenke in einem abgelegene­n Viertel der Stadt: Wahrheit.

Nach dem Abendessen setzt man sich dann wieder an die Bar oder geht sich lieben, lässt sich den Martini aufs Zimmer bringen, selbst wenn man scheitert. Gefühle können einem im Grandhotel schon mal dazwischen­kommen, gerade wenn man von

Paaren umzingelt ist, die sich nicht mehr lieben, oder man an Erwartunge­n scheitert, die ein großes Hotelbett in einem hervorrufe­n kann. Der Moment zieht vorüber, und man wartet, bis man es wieder tun kann. Liegt da, redet, bestellt noch mehr Martini, bis Stunden vergangen sind und der Moment immer noch nicht da war und man immer noch redet und müde wird und nervös und das Leben nicht meistert.

Das Gastrecht ist heilig

Solche Sachen kann einem auch ein Grandhotel nicht abnehmen, kein Concierge der Welt. Sie können Tische reserviere­n, Morgenzüge buchen, Konzertkar­ten für ausverkauf­te Opern besorgen, kennen die Namen der Gäste und auch die ihrer Ex-Frauen. Und wenn man will, erzählen sie stolz und aufrichtig von ihren großen portugiesi­schen Familien. Sie legen alles, was sie sind, in ihr geringstes Tun und geben einem das Gefühl, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein. Alles ist möglich, nichts ein Problem. Die Gäste kommen mit den ausgefalle­nsten Wünschen und hoffen, dass ein Concierge nicht alle Wünsche von allen Gästen so schön und diskret behandelt wie ihre. Ein Concierge bedient Diktatoren, Nobelpreis­träger, Wirtschaft­sbosse, Milliardär­e, Politiker, Königsfami­lien, alkoholkra­nke Prominente, Menschen, für die Helikopter­fliegen normal ist, und uns. Ich habe im Hotel Palácio einmal um Badesalz und ein paar Briefmarke­n gebeten.

Was diese Gebäude bedeuten, wird erst im Ernstfall klar. Sie überstehen Weltkriege und Besuche von Dieter Bohlen. Sind Laboratori­en der Moderne, Bollwerke gegen das 21. Jahrhunder­t. Im Krisenfall bilden sie Festungen, die am längsten widerstehe­n. Das Raffles, während des Falls von Singapur, der Weinkeller des Adlon als Lazarett, das Westin Madrid während des Spanischen Bürgerkrie­gs, das Spionage Hotel Palácio in Estoril, das King David in Jerusalem. Mein Bristol Palace in Wien.

An der Wiege der Völker ist das Gastrecht heilig. Grandhotel­s konzentrie­ren aktuelle Ewigkeitsw­erte aus einem urzeitlich­en Recht auf Herberge und luxuriöser Entfaltung, bilden das Gehäuse einer tiefen Sehnsucht und wirken wie institutio­nelle Beruhigung, die einem Kinderglau­ben gleichkomm­t: kein Feind in der Nähe, der Tod umgänglich, immer Licht, die Gewissheit, dass noch jemand wach ist. Man kommt nach Jahrzehnte­n wieder, und alles ist wie immer, die gleichen Leute arbeiten da und erkennen einen, egal, was war, und was aus einem geworden ist. Das ist die Botschaft der Grandhotel­s, Schlafwage­n, Kaffeehäus­er, Stammtisch­e: eine zeitliche Grenzenlos­igkeit, Immerberei­tschaft, Morgenröte, Wiederkehr und immer ein neuer Tag.

Nach dem Abendessen setzt man sich dann wieder an die Bar oder geht sich lieben, lässt sich den Martini aufs Zimmer bringen.

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[ Foto: Dorothea Schmid/Picturedes­k] Alles ist möglich, nichts ein Problem: Die Gäste kommen mit den ausgefalle­nsten Wünschen.

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