Rhapsodische Wortgewalt
Mein Proust-Moment: Vierzehn Autoren erinnern sich an die „Madeleine-Episode“. Ein perfektes, kleines Geschenk.
Zu Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“existiert seit Längerem ein Subgenre kleinerer Schriften, die, mitunter mit bildungsbürgerlichem Gestus, ein Motiv des gewaltigen Werks herausgreifen. Der Salzburger Verlag Müry Salzmann hat das Genre nun mit „Mein Proust-Moment“um ein feines, kleines Buch ergänzt; der Titel bezieht sich auf die „Madeleine-Episode“. In ihr erzählt Proust, wie er eine Madeleine – ein kleines Sandgebäck in Form einer Jakobsmuschel – in Lindenblütentee taucht und der Geschmack plötzlich eine Kindheitserinnerung wachruft. Vergeblich versucht er die Szene erneut zu beschwören – erst als er „loslässt“, erscheint sie ihm wieder. Dank dieser „Memoire involontaire“kann der Autor sein großes Buch beginnen.
Unter dem etwas blumigen Subtitel „Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt“hat der Salzburger Kulturjournalist und Literaturkritiker Anton Thuswaldner vierzehn Autor:innen ausgewählt, die von ihrem persönlichen Zugang zu diesem Madeleine-Erlebnis berichten. Ihre Texte, denen Grafiken oder frühe Fotos der Autoren vorangestellt sind, arbeiten sich allerdings sehr bewusst an der Erinnerung ab, was Epiphanien a` la
Proust eigentlich ausschließt. Aber hat nicht Proust selbst ähnlich geschwindelt?
Das sozusagen Theoretische findet sich neben der Einleitung des Herausgebers und Martin Walsers Text „Proust-Leser sind im Vorteil“(1965) vor allem in Daniel Wissers Essay „Mit einer kaputten Maschine weiterarbeiten“. Wisser bezweifelt die Brauchbarkeit von Erinnerungen hinsichtlich des Faktischen, betont aber die Bedeutung des Schreibens für das Wiederfinden bzw. Herstellen einer (auch politischen) Sinnlichkeit. Dagegen thematisiert Christina Maria Landerl ihre Erinnerungsunschärfen formal, indem sie Teile des Textes schwärzt.
Der Blick auf technische Geräte, wie sie Bernd-Jürgen Fischer und Peter Kümmel unternehmen, hätte auch den Techniknarren
Proust fasziniert. Kümmel, der Theaterkritiker der „Zeit“, erzählt von einer Aufnahme, die er als Jugendlicher während eines Stromausfalls mit seinem Tonband machte. Dessen Ursache war ein tödlicher Unfall in der Nähe, was zu einer lebenslang anhaltenden Leerstelle in „Thick as a Brick“von Jethro Tull führt. Der Proust-Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer verbindet seinen Proust-Moment mit einem regionalen Motorradrennen und dem Geruch eines Benzingemisches für Zweitakter. Mit dem Tod, nämlich dem des Vaters, endet auch Jens Wonnebergers präzise Verortung eines Dachbodens. Ähnlich präzis sind Alexander Kluges Erinnerungen an die Großelterngeneration und deren Lebensumstände, bis er sich in einem Proust’schen Moment selbst als gealtert und ihnen zugehörig erkennt.
Dass der Geruchssinn als phylogenetisch ältester Sinn eine beherrschende Stellung einnimmt, ist nicht verwunderlich. Anna Kim verfolgt die olfaktorische Spur ihres koreanischen Vaters, und Reinhard Stöckel schreibt über die den Büchern und Fotografien durch Geruch und Verfärbung eingeschriebene Zeit. Auffallend ist, wie östlich geprägte Autorinnen wie Julya Rabinowich oder Anna Baar ihre Erinnerungen mit exotischen Speisen ihrer Herkunft verbinden.
Josef Winkler ist der ungestümste unter Autor:innen wie Elke Laznia, Eleanora Hummel und Anna Baar, die sich mit rhapsodischer Wortgewalt des Themas annehmen. So wird „Mein Proust-Moment“zu einer Art Vademecum durch ein sehr viel weiteres Panorama an Kindheits- und Jugenderinnerungen, als von dem schmalen Buch zu erwarten ist. Ein perfektes, kleines Geschenk.