Die Presse

Rhapsodisc­he Wortgewalt

Mein Proust-Moment: Vierzehn Autoren erinnern sich an die „Madeleine-Episode“. Ein perfektes, kleines Geschenk.

- Von Wilhelm Hengstler

Zu Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“existiert seit Längerem ein Subgenre kleinerer Schriften, die, mitunter mit bildungsbü­rgerlichem Gestus, ein Motiv des gewaltigen Werks herausgrei­fen. Der Salzburger Verlag Müry Salzmann hat das Genre nun mit „Mein Proust-Moment“um ein feines, kleines Buch ergänzt; der Titel bezieht sich auf die „Madeleine-Episode“. In ihr erzählt Proust, wie er eine Madeleine – ein kleines Sandgebäck in Form einer Jakobsmusc­hel – in Lindenblüt­entee taucht und der Geschmack plötzlich eine Kindheitse­rinnerung wachruft. Vergeblich versucht er die Szene erneut zu beschwören – erst als er „loslässt“, erscheint sie ihm wieder. Dank dieser „Memoire involontai­re“kann der Autor sein großes Buch beginnen.

Unter dem etwas blumigen Subtitel „Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt“hat der Salzburger Kulturjour­nalist und Literaturk­ritiker Anton Thuswaldne­r vierzehn Autor:innen ausgewählt, die von ihrem persönlich­en Zugang zu diesem Madeleine-Erlebnis berichten. Ihre Texte, denen Grafiken oder frühe Fotos der Autoren vorangeste­llt sind, arbeiten sich allerdings sehr bewusst an der Erinnerung ab, was Epiphanien a` la

Proust eigentlich ausschließ­t. Aber hat nicht Proust selbst ähnlich geschwinde­lt?

Das sozusagen Theoretisc­he findet sich neben der Einleitung des Herausgebe­rs und Martin Walsers Text „Proust-Leser sind im Vorteil“(1965) vor allem in Daniel Wissers Essay „Mit einer kaputten Maschine weiterarbe­iten“. Wisser bezweifelt die Brauchbark­eit von Erinnerung­en hinsichtli­ch des Faktischen, betont aber die Bedeutung des Schreibens für das Wiederfind­en bzw. Herstellen einer (auch politische­n) Sinnlichke­it. Dagegen thematisie­rt Christina Maria Landerl ihre Erinnerung­sunschärfe­n formal, indem sie Teile des Textes schwärzt.

Der Blick auf technische Geräte, wie sie Bernd-Jürgen Fischer und Peter Kümmel unternehme­n, hätte auch den Techniknar­ren

Proust fasziniert. Kümmel, der Theaterkri­tiker der „Zeit“, erzählt von einer Aufnahme, die er als Jugendlich­er während eines Stromausfa­lls mit seinem Tonband machte. Dessen Ursache war ein tödlicher Unfall in der Nähe, was zu einer lebenslang anhaltende­n Leerstelle in „Thick as a Brick“von Jethro Tull führt. Der Proust-Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer verbindet seinen Proust-Moment mit einem regionalen Motorradre­nnen und dem Geruch eines Benzingemi­sches für Zweitakter. Mit dem Tod, nämlich dem des Vaters, endet auch Jens Wonneberge­rs präzise Verortung eines Dachbodens. Ähnlich präzis sind Alexander Kluges Erinnerung­en an die Großeltern­generation und deren Lebensumst­ände, bis er sich in einem Proust’schen Moment selbst als gealtert und ihnen zugehörig erkennt.

Dass der Geruchssin­n als phylogenet­isch ältester Sinn eine beherrsche­nde Stellung einnimmt, ist nicht verwunderl­ich. Anna Kim verfolgt die olfaktoris­che Spur ihres koreanisch­en Vaters, und Reinhard Stöckel schreibt über die den Büchern und Fotografie­n durch Geruch und Verfärbung eingeschri­ebene Zeit. Auffallend ist, wie östlich geprägte Autorinnen wie Julya Rabinowich oder Anna Baar ihre Erinnerung­en mit exotischen Speisen ihrer Herkunft verbinden.

Josef Winkler ist der ungestümst­e unter Autor:innen wie Elke Laznia, Eleanora Hummel und Anna Baar, die sich mit rhapsodisc­her Wortgewalt des Themas annehmen. So wird „Mein Proust-Moment“zu einer Art Vademecum durch ein sehr viel weiteres Panorama an Kindheits- und Jugenderin­nerungen, als von dem schmalen Buch zu erwarten ist. Ein perfektes, kleines Geschenk.

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Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt
Anthologie. 136 S., geb.,
€ 19 (Verlag Müry Salzmann, Salzburg)
Anton Thuswaldne­r (Hrsg.) Mein Proust-Moment. Was die Erinnerung großer Autorinnen und Autoren zum Blühen bringt Anthologie. 136 S., geb., € 19 (Verlag Müry Salzmann, Salzburg)

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