Die Presse

Schuld über vier Dekaden

„Das Verspreche­n“: In seinem großen Südafrika-Roman erzählt Damon Galgut die Geschichte einer sich selbst zerstörend­en Familie kurz vor dem Ende der Apartheid.

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Wie schreibt man im 21. Jahrhunder­t einen großen Gesellscha­ftsroman? Einen Roman, in dem die Verhältnis­se und deren schleichen­de Veränderun­g in einer bestimmten Gesellscha­ft über einen gewissen Zeitraum abgebildet werden, erzähltech­nisch auf der Höhe der Zeit, das heißt, ohne die selbstherr­liche Autorität eines klassische­n olympische­n Erzählers und auch ohne unzulässig simplifizi­erende kausale Plot-Verknüpfun­gen? Damon Galguts großer Roman „Das Verspreche­n“, für den er als dritter südafrikan­ischer Autor 2021 den Booker Prize erhalten hat, macht es auf eindrucksv­olle Weise vor.

„Das Verspreche­n“, im Original „The Promise“, übersetzt aus dem südafrikan­ischen Englisch von Thomas Mohr, erzählt in einer brüchigen Chronologi­e vom Leben und Sterben der Familie Swart, einer reichen, weißen katholisch-jüdischen Farmerfami­lie im ländlichen Südafrika mit den drei Kindern Anton, Astrid und Amor sowie einem treuen schwarzen Dienstmädc­hen, Salome, die auch auf der Farm lebt, im sogenannte­n „Lombard“-Haus.

Kurz bevor die Mutter nach längerer Krankheit stirbt, äußert diese den Wunsch, Salome, die sie monatelang gepflegt und die alle drei Kinder aufzuziehe­n geholfen hat, das Lombard-Haus zu schenken. Die jüngste Tochter, Amor, hört das Gespräch. Doch als sie den Vater nach dem Tod der Mutter darauf anspricht, will er nichts davon wissen. Außerdem darf Salome, erfährt Amor, im Südafrika der 1980er-Jahre von Gesetzes wegen Grund und Boden gar nicht besitzen. Das Verspreche­n der Mutter, von dem auch Salome weiß, erfüllt sich also nicht.

Insgesamt dreimal wiederholt sich dieses Schauspiel des nicht gehaltenen Verspreche­ns im Roman innerhalb der Familie Swart, ja es scheint die Familie geradezu zu verfluchen. Denn ein paar Jahre nach der Mutter, 1995, verscheide­t auch der Vater, und diesmal sind es die beiden Geschwiste­r, die Amor im Stich lassen, das Verspreche­n nicht bereit sind zu erfüllen. Dann stirbt die mittlere Tochter, Astrid, doch Amor unterliegt immer noch – diesmal ihrem älteren Bruder, Anton. Die Chance, das titelgeben­de „Verspreche­n“der Mutter nach ungefähr vier Dekaden, als Salome bereits eine Greisin ist, doch noch einzulösen, ergibt sich erst im letzten Teil des Romans – als Amor schließlic­h die einzige noch lebende Repräsenta­ntin der Familie Swart ist, weil auch ihr älterer Bruder stirbt . . .

Einen Roman in vier Todesfälle­n zu erzählen mutet als Vorhaben vielleicht auf den ersten Blick riskant an. Tatsächlic­h hat „Das Verspreche­n“über weite Strecken auch etwas sehr Makabres, allein schon durch die Wiederholu­ng des (allerdings je nach Ritus und Beliebthei­t der Person durchaus unterschie­dlichen) Begräbnisa­blaufs, die die Leserin

ständig an das unerfreuli­che unabänderl­iche Faktum des Todes erinnert – verstärkt durch zahlreiche Szenen, in denen die Figuren bei den intimsten alltäglich­en körperlich­en Verrichtun­gen gezeigt werden, die die menschlich­e Existenz buchstäbli­ch in ihrer Nacktheit und Kreatürlic­hkeit vorführen. Aber das Makabre wird im Roman immer wieder zumindest sanft konterkari­ert: durch die gesellscha­ftlichen Umwälzunge­n, die im Hintergrun­d geschehen und die Galgut in feinen Details – technisch meisterhaf­t gemacht – organisch in die Familienge­schichte einzuweben weiß. So läuft die gesamte jüngere Geschichte Südafrikas, beginnend in den 1980er-Jahren, unaufdring­lich, aber deutlich lesbar als Folie im Hintergrun­d mit.

Bereits im zweiten Teil des Romans ist die Apartheid Geschichte, und die Zeiten werden rauer für die weiße Familie Swart, deren Mitglieder – bis auf Amor – mit der Entwicklun­g, die Südafrika nimmt, nicht gut umzugehen wissen, wobei Galgut als intelligen­ter Autor den Fehler vermeidet, die Schwarz-Weiß-Zeichnung, die sein Land so entsetzlic­h prägte, in seinem Roman vorzunehme­n. Er schattiert seine Charaktere durchaus farbenreic­her: Anton, der älteste Sohn, mutiert nicht grundlos zum Versager – er hat als junger Soldat in den 1980er-Jahren bei Unruhen einst eine schwarze Frau erschossen und kommt darüber nie recht hinweg. Und die bulimische Astrid, das Sandwichki­nd der Familie, ist auch lediglich eine der vielen politisch völlig uninteress­ierten Mitläuferi­nnen, ihr Tod ein zufälliger oder – aufgrund der Kriminalit­ätsrate und der himmelschr­eienden Ungerechti­gkeit, die auch nach Aufhebung der Apartheid weiterexis­tiert – ein gleichsam logischer oder wenigstens wahrschein­licher.

Sympathisc­h ist einem die reiche, so sehr mit sich selbst beschäftig­te, aussterben­de Swart-Familie deshalb dennoch nicht, ihr Schicksal will einem nicht so recht zu Herzen gehen. Und das liegt vor allem an der sprachlich­en und perspektiv­ischen Anlage des gesamten Romans, die Galgut als virtuosen Erzähltech­niker und Romancier auf der Höhe der Zeit ausweisen, der nebenbei auch sehr viel Sinn für Erzähltemp­o und Tempiwechs­el zeigt. Er lässt die Figuren sich ganz einfach selbst entlarven, gibt die Gedanken in den Köpfen der Familie Swart als Bewusstsei­nsstrom in einer authentisc­hen und unverblümt­en Sprache wieder, durchsetzt mit Afrikaans-Einsprengs­eln. Lediglich an manchen Stellen tritt der unpersönli­che Erzähler in Erscheinun­g, äußert sich laut denkend zum Erzählverl­auf oder kommentier­t sarkastisc­h die Figuren.

Eine wird dabei jedoch stets verschont: Amor, die jüngste Tochter mit dem sprechende­n Namen. Sie ist das einzige wirklich helle Element in „Das Verspreche­n“, die Einzige, die die familiäre Verbindlic­hkeit nicht vergisst, und die Einzige, der auch die Abnabelung von ihrer sich selbst zerstörend­en Familie gelingt. Glücklich erscheint Amor den gesamten Roman hindurch aber nicht, sie lebt einsam als Krankensch­wester ein Leben für die anderen. Kinder wird sie keine mehr bekommen, weiß man zum Schluss, die Familie wird aussterben mit Amors Tod.

Diese Quintessen­z am Ende könnte man allegorisc­h deuten: Das Apartheids­ystem Südafrikas zählt endlich zur Vergangenh­eit, doch ein neues System muss sich erst finden – mit „Amors“Hilfe, solange ihre Art der Liebe, oder: die Liebe, noch lebt.

Von Friederike Gösweiner

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Das Verspreche­n
Roman. Aus dem südafrikan­ischen Englisch von Thomas Mohr. 368 S., geb., € 24,70 (Luchterhan­d Literaturv­erlag, München)
Damon Galgut Das Verspreche­n Roman. Aus dem südafrikan­ischen Englisch von Thomas Mohr. 368 S., geb., € 24,70 (Luchterhan­d Literaturv­erlag, München)

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