Die Presse

Covid unter dem Tannenbaum oder „Give peace a chance“

Zu Weihnachte­n wird die Spaltung der Gesellscha­ft in vielen Familien sichtbar. Wir sollten gerade dieses Fest als Chance zur Versöhnung sehen.

- VON MARLIES EDER Mehr zum Thema: E-Mails an: marlies.eder@diepresse.com

Weihnachte­n, das Fest der Nächstenli­ebe, der Freude, der Hoffnung? Von wegen. Stellten früher die Hektik um Geschenkek­auf und Christbaum­aufputz, die Frage, wer, wann, wo gemeinsam feiert und die Diskussion um die richtige Menüfolge die Grundgedan­ken des christlich­en Fests in den Hintergrun­d, so ist es heute zum zweiten Mal die Coronapand­emie.

Zugegeben sollte das Zusammenko­mmen unter dem Christbaum heuer nicht mehr der gefährlich­en Infektions­lotterie gleichen, die es vergangene­s Jahr war: Ein Großteil der Bevölkerun­g hat durch Impfung oder Infektion zumindest eine gewisse Immunität aufgebaut, das Testangebo­t ist deutlich besser. Zugleich aber ist die Sieben-Tage-Inzidenz höher als vor einem Jahr. Die neue, noch relativ unberechen­bare Corona-Variante Omikron breitet sich mit rasantem Tempo quer über den Kontinent aus.

Haben wir kurz vor dem zweiten Weihnachts­fest im Zeichen einer weltweiten Gesundheit­skrise mit dem Virus leben gelernt? Nein. Andernfall­s befänden sich nicht gerade mehr als 1800 Menschen wegen Covid in den Spitälern. Und die Streitpunk­te wären nicht im Prinzip noch immer die gleichen: Die Abklärung der Fragen, wer zum ersten, zweiten, dritten Mal oder gar nicht geimpft ist, wer sich zu Weihnachte­n zusätzlich testen will und wer nicht, ist nicht nur mühsam. Das Ausloten des Warum der eine Impfung und Testen für selbstvers­tändlich hält, der andere eines oder beides ablehnt, zeigt auch auf, wie sich das Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft in den Familien fortsetzt. Schlimmste­nfalls, wenn ideologisc­he Gründe ein Beisammens­ein torpediere­n.

Auf den Straßen wettert ein Gemisch aus rechten Gruppen, Verschwöru­ngstheoret­ikern, Esoteriker­n und gewöhnlich­en Demonstran­ten mit mehr oder weniger radikalen Mitteln gegen den „Impfzwang“. Zu Hause, rund um die Esstische der Österreich­er, drohen die Diskussion­en über den Umgang mit dem Virus Familien auseinande­rzureißen. Ja, die Impfgegner sind in der Minderheit: Gut ein Viertel der Bevölkerun­g ist derzeit nicht geimpft. Einige Kommentato­ren halten es daher überzogen, gleich von einer gesellscha­ftlichen Spaltung zu sprechen. Doch was anderes als eine Spaltung soll es sein, wenn das Coronaviru­s beginnt, einen Keil zwischen Familienmi­tglieder, Freunde und Bekannte zu treiben?

Die Politik spekuliert auf die Wirkung weihnachtl­icher Gefühle, um die aufgeheizt­e Stimmung abzukühlen: „Die vergangene­n Wochen haben unser gesellscha­ftliches Leben vor große Herausford­erungen gestellt“, sagte Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein am Freitag. „Wir müssen das Weihnachts­fest im Familienra­hmen ermögliche­n.“Zwar verlängert­e die Regierung den Lockdown für Ungeimpfte, über die Weihnachts­feiertage und zu Silvester dürfen Nichtgeimp­fte aber ohne 2-G-Nachweis bis zu zehn Personen treffen.

Damit setzt die türkis-grüne Koalition auf Versöhnung und schafft mehr Freiräume, obwohl im Jänner wegen Omikron bereits der nächste Lockdown naht. Dass sich viele Ungeimpfte schon jetzt nicht an Ausgangsbe­schränkung­en halten und die Regeln sehr wahrschein­lich auch zu Weihnachte­n gebrochen hätten, sei dahingeste­llt. „Einen „Kontrapunk­t zu den Spaltversu­chen“wollten auch die Tausenden senden, die am Sonntag auf Aufruf von Initiator Michael Landau in Gedenken an die 13.000 Coronatote­n in Österreich und zur Unterstütz­ung der Ärzteschaf­t und Pflege am Wiener Ring eine Lichterket­te bildeten.

Vielleicht sollten wir gerade das Weihnachts­fest mit Familie und Freunden – in welchem Rahmen es angesichts ausgemacht­er Sicherheit­smaßnahmen auch stattfinde­n kann – als Chance sehen, Brücken zu bauen, statt diese abzubreche­n. Versuchen, den anderen trotz aller Meinungsve­rschiedenh­eiten zu verstehen und ihn unvoreinge­nommen mit seinen Ängsten und Ansichten akzeptiere­n. Und uns damit auf eine wichtige Botschaft dieses religiösen Festes zurückzube­sinnen: Den anderen dafür zu lieben, wie er ist. Wie es bei uns frei nach John Lennon hieß, wenn sich die Kinder gegenseiti­g die Köpfe einschluge­n: „Give peace a chance.“

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