Die liberalen Demokratien und die „bösen Kerle“
Umbruchzeiten. Diktaturen und rabiate Autokratien sind in der Welt auf dem Vormarsch, während Demokratien immer mehr zurückweichen.
So ein richtiger weltpolitischer Knaller ist er nicht geworden – der von US-Präsident Joe Biden vor elf Tagen initiierte virtuelle „Gipfel für Demokratie“. Das hat mehrere Gründe: Virtuelle Begegnungen in Pandemiezeiten sind niemals so einprägsam, aufregend und wegweisend wie Gipfeltreffen auf persönlicher Ebene. Zweitens sind die USA nach den Trump-Jahren und dem Sturm auf das Capitol am 6. Jänner ein angepatzter Anführer der demokratischen Welt. Schließlich dürfte großen Teilen der westlichen Gesellschaften gar nicht wirklich bewusst sein, wie stark das demokratische Regierungsmodell global unter Druck geraten ist.
Tatsächlich sind rund um den Globus linke und rechte Diktaturen sowie rabiate Autokratien auf dem Vormarsch. Sie erweitern ihren politischen sowie wirtschaftlichen Einfluss und rechtfertigen ihre repressiven Regime ungeniert, während sich die Demokratien Rückzugsgefechte liefern. Der „Economist“schreibt von einer Hochkonjunktur „geopolitischer Quertreiber“. Die US-Starpublizistin Anne Applebaum hielt im „Atlantic“-Magazin fest: „Die bösen Kerle sind auf der Gewinnerstraße.“Genau deshalb hatte Biden ja zum Demokratie-Gipfel geladen.
Laut der NGO „Freedom House“, die die Förderung der liberalen Demokratien zum Ziel hat, ist der Rückzug der Demokratien und der Vormarsch der Autokratien bereits seit 2006 im Gang. Die Farbrevolutionen in Georgien 2003, in der Ukraine 2004 und in Kirgisistan 2005 lösten bei den Herrschaftseliten in Moskau und in anderen Hauptstädten früherer Sowjetrepubliken Alarmstimmung aus. Bürgerbewegungen und Demokratie-Initiativen wurden fortan als „Bedrohung der inneren Sicherheit“– konkret: als Herausforderung der herrschenden Regime – wahrgenommen.
Sodann war es der Arabische Frühling 2011 und die Rolle, die die sozialen Medien dabei spielten, der Autokraten veranlasste, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und immer waren es in den Augen bedrängter Regime heimtückische amerikanische/westliche Machenschaften und nicht etwa die inneren gesellschaftlichen und sozialen Missstände, die die Serie von Volksaufständen ausgelöst hatten.
Dass die Demokratien heute in der Defensive und die Autokratien in der Offensive sind, hat vielerlei Gründe. Einige sind:
▶ Demokratien sind fragil und leicht zu unterminieren: Basis von demokratischen Regierungssystemen sind ein Set von zivilen Tugenden, die Bereitschaft zu Kompromissen und Spielregeln, an die sich alle
halten sollten. Wenn demokratisch gewählte Regierungschefs wie Donald Trump in den USA, Viktor Orbán in Ungarn oder Jaroslaw Kaczyn´ski in Polen sich nicht mehr diesen Normen verpflichtet fühlen, setzt die Erosion des demokratischen Systems ein. Feinde der offenen Gesellschaften im Inneren wie äußere Widersacher versuchen, diesen Zerfallsprozess zu forcieren. Populismus und Nationalismus blühen auf und die Spaltung der Gesellschaften schreitet voran.
▶ Demokratien fehlt eine Leitnation: Es war wohl Sinn und Zweck von Bidens Demokratiegipfel, der Welt zu signalisieren, dass die USA wieder als Leit- und Schutznation der demokratischen Welt bereitstehen. Nur, seit der Ära von Donald Trump begegnet die ganze Welt den Vereinigten Staaten mit großem Argwohn, und der chaotische Abzug aus Afghanistan in diesem Sommer hat nicht dazu beigetragen, dieses Misstrauen abzubauen – im Gegenteil.
Robert Kagan, ein prominenter neokonservativer Vordenker, prophezeite in der „Washington Post“: „Die USA steuern auf die größte politische und konstitutionelle Krise seit dem Bürgerkrieg zu, mit einer realistischen Chance, dass es in den nächsten vier bis fünf Jahren zu Zwischenfällen mit Massengewalt, zum Zusammenbruch der föderalen Autorität und zur Spaltung des Landes in sich gegenseitig bekriegende, republikanische und demokratische Enklaven kommt.“
Dieses Szenario werde dann eintreten, wenn Donald Trump 2024 wieder als Präsident kandidiere und er und die Republikaner zu jedem möglichen Mittel greifen, um seinen Wahlsieg zu sichern.
▶ Autokratien kooperieren und lernen
voneinander: Auch in den modernen Diktaturen und Autokratien mag zwar ein einzelner Despot an der Spitze stehen. Aber, wie Anne Applebaum analysiert, gruppiert sich um die Führerfiguren herum ein ausgeklügeltes Netzwerk aus Sicherheitsapparatschiks, professionellen Propagandisten und kleptokratischen Oligarchen:
„Die Mitglieder dieses Netzwerks sind nicht nur landesintern miteinander verknüpft, sondern haben Verbindungen in viele Länder. Korrupte, staatlich kontrollierte Unternehmen der einen Diktatur machen Geschäfte mit korrupten Staatsbetrieben der anderen. Die Polizei der einen Autokratie kann die Polizei einer anderen ausrüsten, bewaffnen und ausbilden. Die Propagandisten teilen ihre Ressourcen, die Trollfabriken des einen Diktators können zur Verbreitung von Stimmungsmache für einen anderen Diktator eingesetzt werden.“
So stehen etwa Kuba, Iran, Russland und China dem vom Chavez- und Maduro-Regime völlig heruntergewirtschafteten Venezuela zur Seite. Autokratien, die unter westlichen Sanktionen stehen, treiben Handel miteinander und geben sich Tipps, wie man die Strafmaßnahmen am besten umgeht. Sie beraten sich gegenseitig, wie politischer Widerstand gegen ihre Herrschaft am besten auszuschalten ist und wie man sich gegen Umsturzversuche wehrt.
Russland hat vorgemacht, wie man mit Verordnungen gegen vermeintliche „ausländische Agenten“die Zivilgesellschaft an die Kandare nimmt, wie man Gesetze zur Terrorbekämpfung dazu einsetzt, um politische Gegner zum Schweigen zu bringen, und wie man Marionettenorganisationen zur Legitimierung der autoritären Herrschaft schafft.
In Budapest und Warschau stimulieren sich die rechtsnationalistischen Regierungen gegenseitig beim Aushecken von Maßnahmen gegen die unabhängige Justiz und kritische Medien. Ihr antidemokratisches Vorgehen findet Nachahmer in Belgrad und Ljubljana.
Trump hat Schleusen geöffnet
Wer zu den Unterdrückungsmaßnahmen Pekings in Xinjiang, Tibet und Hongkong schweigt, kann chinesische Überwachungstechnik kaufen und mit umfangreichen Investitionen rechnen, von denen die Schweigenden mitprofitieren. Inzwischen tendiert sogar die globale liberale Wirtschaftsordnung in eine kleptokratische und oligarchische Richtung. Überhaupt machen sich die chinesischen Kommunisten in internationalen Organisationen und Institutionen immer breiter, um dort ihre eigene Agenda umzusetzen.
Auch hier hat der Rückzug der USA aus internationalen Netzwerken während der Trump-Ära Schleusen geöffnet, Joe Biden versucht gegenzusteuern. Vor allem aber müsste er sich bemühen, das eigene Haus in Ordnung zu bringen und die demokratischen Fundamente der US-Demokratie zu erneuern und zu festigen. Wenn das nicht gelingt, könnte ein autokratischer Tornado durch die ganze demokratische Welt fegen.
DER AUTOR
Burkhard Bischof war viele Jahre Außenpolitikexperte der „Presse“und langjähriger Leiter des Debattenressorts.