Was die Ukraine umtreibt
Russland verlegt Hubschrauberstaffeln an die ukrainische Grenze – und interveniert in Kasachstan: Beides beschäftigt Kiew in diesen Tagen mehr als die USA-Russland-Gespräche.
Warschau/Kiew. Auf den ersten Blick mag es überraschen: In Genf verhandeln die US-Regierung und der Kreml vor dem Hintergrund des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze. Aber dort, in der Ukraine, beherrschte dieser Gipfel gar nicht die Schlagzeilen. Denn in Kiew interessieren sie sich mehr dafür, was Russland an der Grenze unternimmt, und weniger dafür, was es in Genf sagt. Und zuletzt hat Russland einen weiteren beunruhigenden Schritt gesetzt und Truppen bewegt. Außerdem saugt Russlands Vorgehen gegen die Proteste in Kasachstan viel Aufmerksamkeit auf, weil sich Parallelen auftun.
Auch die Regierung hält mit Blick auf die USA-Russland-Gespräche den Ball flach. Bevor man ernsthaft verhandeln könne, seien eine Deeskalation an der Ostgrenze zur Ukraine und Schritte auf der von Russland völkerrechtswidrig besetzten Krim nötig, sagte Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstag. „Für Schlussfolgerungen“aus den Gesprächen sei es zudem „zu früh“. Kuleba verwies auf die weiteren „sogenannten Verhandlungen“am Mittwoch beim Nato-RusslandRat sowie dann bei der OSZE-Mitgliederversammlung in Wien.
Wichtig sei, dass nicht über die Ukraine ohne Beisein der Ukraine entschieden werde. „Die Zeit des Kalten Krieges ist vorbei und jene der Einflusssphären ebenso“, hatte er schon während der Gipfelgespräche getwittert.
Bald 175.000 Soldaten?
Schlagzeilen machte in Kiew die Verlegung neuer russischer Hubschrauberstaffeln an die Grenze zur Ukraine. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass der Kreml damit beginnt, die Truppenstärke von 100.000 Mann auf 175.000 Mann zu erhöhen, hieß es in Kiew. Ein Signal der Deeskalation sei das jedenfalls nicht.
In allen Meldungen über den Genfer USA-Russland-Gipfel wurde indes hervorgehoben, dass sich die beiden Delegationen auf dem Gelände der US-getroffen hätten. Bei den fast achtstündigen Verhandlungen kam es zu keinem Durchbruch.
US-Vize-Außenministerin Wendy Sherman machte hernach klar, dass Washington weiterhin bilateral mit souveränen Staaten zusammenarbeiten würde, die dies wünschten. Die von Russland geforderten Garantien für einen Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung werde man nicht abgeben. Die USA boten Russland Abrüstungsverhandlungen und Gespräche über eine Begrenzung von Manövern und die Stationierung von Raketen an der russischen Westgrenze an, falls Moskau zu ähnlichen Schritten bereit sei. Diese könnten laut Sherman bereits am Mittwoch in Brüssel beginnen, wenn der Wille dazu in Moskau vorhanden sei.
„Wir entscheiden nicht über die Ukraine ohne die Ukraine“, machte Sherman jedoch klar. Moskau versicherte, es wolle die Ukraine nicht angreifen. „Die Lage ist nicht hoffnungslos“, sagte der russische Verhandlungsführer Sergej Rjabkow. In der Frage der NatoOsterweiterung und der Stationierung von Angriffswaffen an der Grenze brauche es aber Erfolge.
Die Parallelen zu Kasachstan
Weit mehr diskutiert wird in der Ukraine die Lage in Kasachstan. Erst am Montag forderte das Außenministerium in Kiew in einem offiziellen Schreiben an Präsident Kassym-Schomart Tokajew ein Ende der Gewalt sowie den Abzug der Friedenstruppen des von Russland ins Leben gerufenen Militärbündnisses ODKB, dem sowohl Russland als auch Kasachstan angehören. Moskau hatte zum Jahresanfang rund 2300 „Friedenstruppen“nach Kasachstan entsandt, die Tokajew dabei halfen, den spontanen Volksaufstand niederzuringen. Dabei hat es mindestens 160 Tote und Tausende Verhaftungen gegeben.
Die Sympathien der meisten Ukrainer waren bei den Aufständischen, schien sich doch wie einst in der Ukraine eine neue „farbige Revolution“in einer von Russland als Einflusssphäre beanspruchten Ex-Sowjetrepublik anzubahnen.
Dass sich die Stimmung rasch ändern kann, erlebt Kiew gerade in seinen Beziehungen mit Belarus, das heute als große Gefahr für die eigene Sicherheit angesehen wird. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko hat seinem einzigen verbliebenen Unterstützer Wladimir Putin bereits die Solidarität des Heeres im Donbass zugesichert. In der Ukraine wird gar über einen möglichen Angriff von Belarus’ Norden auf die nur gut 120 Kilometer südlich gelegene Hauptstadt Kiew spekuliert.