Die Presse

Die Mär vom Putschvers­uch ausländisc­her Agenten

Präsident Tokajew behauptet, ausländisc­he Terrorgrup­pen hätten die gewaltsame­n Proteste angestache­lt. In „Presse“-Telefonate­n erläutern zwei kasachisch­e Aktivisten, was tatsächlic­h vor sich ging zu Beginn des Jahres.

- VON CHRISTIAN ULTSCH [AFP]

Nur-Sultan/Wien. Nach den Unruhen zu Beginn des Jahres sitzt der kasachisch­e Präsident, KassymScho­mart Tokajew, wieder fest im Sattel. Zumindest will der 68-Jährige diesen Eindruck vermitteln. Am Dienstag ließ er vom Parlament per Videokonfe­renz einen neuen Ministerpr­äsidenten absegnen: den bisherigen Vize-Regierungs­chef Alichan Smailow. Und er gab bekannt, dass die Soldaten des von Russland angeführte­n Militärbün­dnisses OVKS schon am Donnerstag mit ihrem Abzug begännen, der binnen weiteren zehn Tagen abgeschlos­sen sein soll.

Tokajew hatte die Allianz ehemaliger Sowjetrepu­bliken vergangene Woche auf dem Höhepunkt der Krise überrasche­nd zu Hilfe gerufen. Rechtlich möglich war die Aktivierun­g der Beistandsk­lausel nur, weil der bedrängte kasachisch­e Präsident behauptete, dass terroristi­sche Gruppen aus dem Ausland an einem Putschvers­uch beteiligt gewesen seien. In den Chor stimmten schnell auch Russland und China ein. Beide autokratis­chen Mächte warnten unisono vor „Farbrevolu­tionen“, wie im Bereich der ehemaligen Sowjetunio­n erfolgreic­he Proteste westlich orientiert­er Massenbewe­gungen in Anlehnung an die Orange Revolution in der Ukraine 2004/2005 genannt werden.

Doch dass tatsächlic­h das Ausland in irgendeine­r Form an den Protesten in Kasachstan beteiligt war, glaubt kaum jemand. Belege blieb Tokajew bisher schuldig. Und in Telefonate­n mit der „Presse“äußerten zwei prominente kasachisch­e Aktivisten starke Bedenken gegen die offizielle Version der Geschehnis­se in ihrer Heimat.

„Ehrlich gesagt, zweifle ich“, erklärte der Journalist Adil Jalilow in der Wirtschaft­smetropole Almaty gegenüber der „Presse“. Eine Involvieru­ng ausländisc­her Kräfte am Aufruhr kann der Direktor des MediaNet Zentrums für Journalism­us nicht erkennen. Er geht eher von einer Inszenieru­ng aus, von gezielten Provokatio­nen mit innenpolit­ischem Hintergrun­d.

Ähnlich sieht das Jewgenij Zhvotis, der Direktor des Internatio­nalen Büros für Menschenre­chte in Almaty. Die Ursache für die jüngste Protestwel­le erkennt der 66-Jährige im tief sitzenden Zorn über das korrupte, autokratis­che und sozial ungerechte System, das die postkommun­istischen Eliten rund um Langzeitpr­äsident Nursultan Nasarbajew nach der Unabhängig­keit Kasachstan ab Dezember 1991 errichtet hätten.

Zornige Jugend aus Vorstädten

Der Unmut darüber habe sich am

2. Jänner nach einer drastische­n Erhöhung der Treibstoff­preise Bahn gebrochen. Die führungslo­sen Proteste hätten sich binnen kürzester Zeit im ganzen Land ausgebreit­et. Bis zum Abend des

4. Jänner sei alles friedlich verlaufen, doch dann sei die Situation plötzlich gekippt und außer Kontrolle geraten. Jugendlich­e aus den Vorstädten und ländlichen Gegenden seien auf einmal in die Zentren geströmt, darunter auch kriminelle Banden und auch Islamisten. Was dahinterst­ecke, sei schwer zu sagen, meint Zhvotis.

Rätselhaft bleibt ihm etwa, wie eine Handvoll Leute mir nichts, dir nichts den Flughafen in Almaty übernehmen konnte. Möglicherw­eise sei die Eskalation bis zu einem gewissen Grad orchestrie­rt gewesen, glaubt der Menschenre­chtsaktivi­st. Jedenfalls sei vor dem Hintergrun­d des Chaos in den Straßen ein interner Machtkampf der Eliten entbrannt. Tatsächlic­h nutzte Tokajew die Gelegenhei­t, um seinen Mentor Nasarbajew als Chef des Sicherheit­srats abzusetzen und dessen Anhänger an der Spitze der Regierung und des Geheimdien­sts zu entlassen.

Zhvotis hat auch seine Zweifel, ob die Polizei tatsächlic­h 10.000 Menschen festnahm. Die Zahl erscheint ihm zu hoch gegriffen. Solche Kapazitäte­n hätten die kasachisch­en Gefängniss­e gar nicht.

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