Die Mär vom Putschversuch ausländischer Agenten
Präsident Tokajew behauptet, ausländische Terrorgruppen hätten die gewaltsamen Proteste angestachelt. In „Presse“-Telefonaten erläutern zwei kasachische Aktivisten, was tatsächlich vor sich ging zu Beginn des Jahres.
Nur-Sultan/Wien. Nach den Unruhen zu Beginn des Jahres sitzt der kasachische Präsident, KassymSchomart Tokajew, wieder fest im Sattel. Zumindest will der 68-Jährige diesen Eindruck vermitteln. Am Dienstag ließ er vom Parlament per Videokonferenz einen neuen Ministerpräsidenten absegnen: den bisherigen Vize-Regierungschef Alichan Smailow. Und er gab bekannt, dass die Soldaten des von Russland angeführten Militärbündnisses OVKS schon am Donnerstag mit ihrem Abzug begännen, der binnen weiteren zehn Tagen abgeschlossen sein soll.
Tokajew hatte die Allianz ehemaliger Sowjetrepubliken vergangene Woche auf dem Höhepunkt der Krise überraschend zu Hilfe gerufen. Rechtlich möglich war die Aktivierung der Beistandsklausel nur, weil der bedrängte kasachische Präsident behauptete, dass terroristische Gruppen aus dem Ausland an einem Putschversuch beteiligt gewesen seien. In den Chor stimmten schnell auch Russland und China ein. Beide autokratischen Mächte warnten unisono vor „Farbrevolutionen“, wie im Bereich der ehemaligen Sowjetunion erfolgreiche Proteste westlich orientierter Massenbewegungen in Anlehnung an die Orange Revolution in der Ukraine 2004/2005 genannt werden.
Doch dass tatsächlich das Ausland in irgendeiner Form an den Protesten in Kasachstan beteiligt war, glaubt kaum jemand. Belege blieb Tokajew bisher schuldig. Und in Telefonaten mit der „Presse“äußerten zwei prominente kasachische Aktivisten starke Bedenken gegen die offizielle Version der Geschehnisse in ihrer Heimat.
„Ehrlich gesagt, zweifle ich“, erklärte der Journalist Adil Jalilow in der Wirtschaftsmetropole Almaty gegenüber der „Presse“. Eine Involvierung ausländischer Kräfte am Aufruhr kann der Direktor des MediaNet Zentrums für Journalismus nicht erkennen. Er geht eher von einer Inszenierung aus, von gezielten Provokationen mit innenpolitischem Hintergrund.
Ähnlich sieht das Jewgenij Zhvotis, der Direktor des Internationalen Büros für Menschenrechte in Almaty. Die Ursache für die jüngste Protestwelle erkennt der 66-Jährige im tief sitzenden Zorn über das korrupte, autokratische und sozial ungerechte System, das die postkommunistischen Eliten rund um Langzeitpräsident Nursultan Nasarbajew nach der Unabhängigkeit Kasachstan ab Dezember 1991 errichtet hätten.
Zornige Jugend aus Vorstädten
Der Unmut darüber habe sich am
2. Jänner nach einer drastischen Erhöhung der Treibstoffpreise Bahn gebrochen. Die führungslosen Proteste hätten sich binnen kürzester Zeit im ganzen Land ausgebreitet. Bis zum Abend des
4. Jänner sei alles friedlich verlaufen, doch dann sei die Situation plötzlich gekippt und außer Kontrolle geraten. Jugendliche aus den Vorstädten und ländlichen Gegenden seien auf einmal in die Zentren geströmt, darunter auch kriminelle Banden und auch Islamisten. Was dahinterstecke, sei schwer zu sagen, meint Zhvotis.
Rätselhaft bleibt ihm etwa, wie eine Handvoll Leute mir nichts, dir nichts den Flughafen in Almaty übernehmen konnte. Möglicherweise sei die Eskalation bis zu einem gewissen Grad orchestriert gewesen, glaubt der Menschenrechtsaktivist. Jedenfalls sei vor dem Hintergrund des Chaos in den Straßen ein interner Machtkampf der Eliten entbrannt. Tatsächlich nutzte Tokajew die Gelegenheit, um seinen Mentor Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrats abzusetzen und dessen Anhänger an der Spitze der Regierung und des Geheimdiensts zu entlassen.
Zhvotis hat auch seine Zweifel, ob die Polizei tatsächlich 10.000 Menschen festnahm. Die Zahl erscheint ihm zu hoch gegriffen. Solche Kapazitäten hätten die kasachischen Gefängnisse gar nicht.