Ein katholischer Linker der alten Schule
David Sassoli, seit 2019 Präsident des Europaparlaments, verstarb in der Nacht auf Dienstag im Alter von 65 Jahren.
Wien/Brüssel. Knapp nach Ausbruch der Pandemie, als man erst da und dort vage mutmaßte, dass die Lockdowns zu einem enormen Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder zu führen drohten, traf David Sassoli folgende Verfügung: Ein Verwaltungsgebäude des Europäischen Parlaments am Brüsseler Square de Meeuˆs sollte ab sofort den örtlichen Sozialbehörden als Frauenschutzhaus dienen.
Diese Anekdote zeigt, dass Sassoli im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchte, das Beste aus der misslichen Lage zu machen – und dabei vor allem Nutzen für Schwache, Benachteiligte, Schutzbedürftige zu schaffen. Der am 30. Mai 1956 in Florenz Geborene neigte als christlichsozialer Linker einer politischen Denkweise zu, die heute nicht sehr in Mode ist. „Ohne die Arroganz zu haben, dass wir alle Probleme lösen können, müssen wir zu neuen Initiativen ermutigen, um es verständlich zu machen, dass wir ein großer Kontinent sind, wo die Menschen von anderswo willkommen sind, zu leben und auch mit uns zu arbeiten“, sagte Sassoli Anfang Mai vorigen Jahres in einem Interview mit der Pariser Europa-Revue „Le Grand Continent“.
Auch mit dieser Haltung lag der zweifache Vater, verheiratet mit der Architektin Alessandra Vittorini, der Tochter des bekannten Urbanisten Marcello Vittorini, nicht im Mainstream der zeitgenössischen europapolitischen Gesinnung. Wo er sich darüber empörte, dass Migranten vor den Küsten Europas ertrinken, beschränkt sich der Basso continuo der Innenminister und Ministerpräsidenten und auch der Europäischen Kommission zumeist nur auf: Außengrenzen schützen.
Sohn eines Antifaschisten
Sassoli war eines der bekanntesten Gesichter des TV-Senders RAI, bevor er 2009 in die Politik ging. Er moderierte jahrelang die populären Abendnachrichten auf Rai Uno. Beliebt wurde er dank seiner freundlichen, stets ruhigen Art, mit der er Italiens TV-Zuschauer durch die Wirren der Nachrichtenwelt führte. Doch bereits davor hatte er sich als Investigativreporter bei verschiedenen Nachrichtensendungen der RAI einen Namen gemacht. Sein Schwerpunkt waren Recherchen zur Mafia. Dafür wurde er mehrfach ausgezeichnet. Schon als Student der Politikwissenschaften begann er seine journalistische Karriere, arbeitete für mehrere Zeitungen, unter anderem die römische „Il Tempo“und in der Hauptstadtredaktion der Mailänder Tageszeitung „Il Giorno“, ehe er 1992 bei der RAI begann. Die Begeisterung für diesen Beruf erbte er von seinem Vater, Domenico. Doch auch der (katholische) Antifaschismus des Vaters, der in der „Resistenza“gegen NSBesatzer und Faschisten gekämpft hatte, prägte Sassoli. In die Politik holte ihn sein ehemaliger Journalisten-Kollege Walter Veltroni. Auch er, Chef der exkommunistischen Tageszeitung „L’Unita`“, war in die Politik gegangen: erst als Mitbegründer der sozialdemokratischen PD, dann als Bürgermeister von Rom, 2007 bis 2009 schließlich als Chef der PD – für die er auch Sassoli gewann, nämlich als Abgeordneter zum Europaparlament. Gern wäre der „Tifoso“des Fußballklubs Fiorentina Bürgermeister von Rom geworden. Doch bei den Vorwahlen 2012 landete er hinter Ignazio Marino und dem heutigen EU-Wirtschaftskommissar, Paolo Gentiloni.
Konservative Metsola folgt ihm
Im Herbst vorigen Jahres erkrankte Sassoli nach einer Infektion mit Legionellen an einer schweren Lungenentzündung. Wochenlang war er außer Gefecht und musste seine Hoffnung entschwinden lassen, nächste Woche in Straßburg doch noch für weitere zweieinhalb
Jahre zu kandidieren. Die Maltesin Roberta Metsola von der Europäischen Volkspartei wird ihm folgen. „Alles andere als ihre Wahl wäre eine faustdicke Überraschung“, sagte der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier am Dienstag. Zu Weihnachten verschlechterte sich Sassolis Gesundheitszustand akut. Am Montagnachmittag gab sein Sprecher bekannt, dass er wegen einer Störung des Immunsystems seit 26. Dezember in einer Klinik in Aviano lag. Dort starb er auch, in der Nacht auf Dienstag. „Sehen Sie“, hatte er am Ende seines Interviews mit „Le Grand Continent“gesagt, „wir haben zahlreiche Herausforderungen zu bestehen, aber wir müssen uns der Zukunft mit Zuversicht stellen, ohne in Panik zu verfallen.“