Der deutsche Staatskünstler Frankreichs
Seine Kunst garantiert Bedeutung: Mit der Celan’schen Ikonografie bedient und thematisiert er unser schwieriges Verhältnis zu Pathos.
Die Augen mussten sich erst gewöhnen, betrat man den riesigen Raum, 10.000 Quadratmeter, schwarzer Industrieboden, mehr Hangar als Halle. Mehr Türme als Bilder die Objekte, die im Dämmerlicht erschienen. Nicht nur überlebensgroß, überkunstgroß, bis zu 13 Meter hoch, schwer wiegend vor Material und Symbolik. Und in ihrem Rücken schimmerte der Fuß des Eiffelturms durch die Glasfront. Pathos unverstellt. Unglaublich, was sich rund um den Jahreswechsel in Paris um den deutschen Künstler Anselm Kiefer abgespielt hat: eine megalomane, nur vier Wochen dauernde Ausstellungsinszenierung im gesamten Grand Palais Éphémère, dem renovierungsbedingten Ausweichquartier des Pariser Veranstaltungszentrums am Marsfeld.
Das Ganze als Geste der deutsch-französischen Freundschaft zu Beginn der französischen EU-Präsidentschaft zu deuten ist legitim, folgte die Schau einem Wunsch von Emmanuel Macron, bekennender Bewunderer Kiefers. 2020 hat der Präsident ihn schon mit dem gewichtigsten Auftrag überhaupt betraut: Seither stehen in der französischen Ruhmeshalle Pantheon sechs von Kiefers Vitrinen voll mit seinem gewohnten Gedächtnismaterial, Totenhemden, trockenen (Papier-)Blumen, verbrannter Erde etc. Sie werden dort nicht nur bleiben, sie dominieren an diesem den Franzosen heiligen Ort sogar die künstlerische Ausstattung.
Nein, das sind keine völkerverbindenden Gesten mehr. Das ist mehr, die Suche nach einer Ästhetik der Bedeutung für eine ganze Nation. Dass diese ausgerechnet von einem deutschen Künstler stammt, dessen Kunst dezidiert aus einer Ikonografie deutscher Geschichte schöpft, macht diese Suche nicht nur erträglicher, sondern in ihrer Ambivalenz, ja Absurdität auch interessant. Der entsetzte Aufschrei Kiefers auf die „Presse“-Frage, ob er denn jetzt Staatskünstler in Frankreich sei, mag zwar echt gewesen sein. Aber eigentlich stellt sie sich angesichts seiner Präsenz nicht mehr. Eine Präsenz, die übrigens nicht mit Macron verbunden ist, schon vor dessen Amtszeit wurden Kiefer die größten Ehren in seiner Wahlheimat seit 1992 zuteil – 2007 der so selten vergebene Auftrag für ein Wandgemälde im Louvre. 2011 die Berufung ans Collège de France, als erster bildender Künstler. 2015 seine bisher größte Retrospektive im Centre Pompidou. Dann Pantheon. Jetzt Grand Palais Éphémère. Weitergeführt bis in den Mai hinein durch eine Ausstellung in den großen Pariser Räumen seiner Galerie Ropac. Was kann noch kommen? Oder ist die Liebe der Franzosen zu Kiefer, die zumindest dem Pathos eindeutig weniger kritisch gegenüberstehen als Deutsche, nur ein Missverständnis – wie Madame de Stael einst in „Über Deutschland“die Deutschen, zumindest zum Teil, missverstand?
Alles ein großes Missverständnis?
Wichtiger ist, diese Frage zu stellen, als sich anzumaßen, sie beantworten zu können. Auch Kiefer selbst wirft sie auf: Im überraschendsten Gemälde seiner am Montag zu Ende gegangenen Grand-Palais-Ausstellung titelte er mit der Autorin und ihrem Werk, das unter Napoleon 1810 eingestampft wurde und trotzdem seither das DeutschlandBild der Franzosen prägte – verschlossen, dunkel, romantisch. Unter dem Schriftzug zeigt Kiefer eine Nazi-Architektur, vielleicht den gespiegelten Berliner Tempelhof-Flughafen. Davor ein Feld weißer Pilze, tatsächlich, an denen Namensschildchen mit deutschen Romantikern vor allem hängen – von Schlegel über die Brüder Grimm, da wird man schon aufmerksam, bis zu Ulrike Meinhof. Schwarze Romantik. Schwarze Milch der Frühe. Bei Kiefer wirkt alles zusammen und hebt sich dabei gefährlich gegenseitig auf. Damit treibt er einen in eine Enge, aus der manche nur entwischen durch Ablehnung seiner Kunst – des Pathos, das hier so zelebriert wie vorgeführt wird. Der vorhersehbaren Sensibilitäten, materiellen wie inhaltlichen, die scheinbar unendlich variiert werden. Blei und Beuys’sche Kreideschrift, bleiche Mohnblumen, schrundige Schollen, ein wenig Frauenhaar, leere Menschenhemdchen. Der Alchemiebaukasten, aus dem all diese Ergriffenheit geschöpft wird – im Hintergrund der Grand-Palais-Ausstellung wurde er offengelegt: ein Lager, wie aus Kiefers Atelier, war aufgebaut. Vor dem Café wirkte es wie Regale bei Ikea. Eine Lapidarität, sicher nicht geplant, dafür umso besser, härter.
Statt Preisen der Gedächtnis-„Ware“aber las man Poesie-Fetzen. Der Bezug auch da vor allem – Paul Celan. Seit 1981 schreibt Kiefer Celan in seine Bilder ein, meist verwehende, schwer lesbare Zeilen, inhaltlich Verrätseltes, dafür ein moralisch umso eindeutigeres Gerüst. Auch die Pariser Ausstellung war dezidiert dem Dichter gewidmet, der sich 1970 in Paris das Leben nahm. Wie eine Beschwörung wirkte an diesem Ort das fast signaturhafte „für Paul Celan“, das Kiefer manisch auf seine Rücken an Rücken montierten Bilderstelen schreibt. Sie lasteten schwer auf Montage-Rädern, wie Riesenspielzeug. Eine Leichtigkeit, sichtlich nur Behauptung, nur Metapher. Wie die ganze Ausstellung. Durch ihre Wirkmacht ließ sie, für uns zumindest auf Zeit, das Kiefer-Zitat wahr werden, das er ihr, ebenfalls ganz Romantiker, vorangestellt hatte: „Poesie ist die einzig mögliche Realität. Alles andere Illusion.“