So hält Buchbinder Wiener Schmäh auf Distanz
Musikalische Lokalpatrioten feierten im Goldenen Saal den halbrunden Geburtstag des Pianisten, der sich selbst zum Jubiläum Musik von Brahms, Schubert und Beethoven schenkte.
Unser Rudolf Buchbinder – kaum war das Konzert angekündigt, war es auch schon ausverkauft. Was in düsteren Zeiten wie diesen hieß: nur eintausend Zuhörer im Goldenen Saal. Es galt ja auch, einen markanten, unrunden Geburtstag der Ikone der Wiener Pianistik gebührend nachzufeiern – das ist einfach ein gesellschaftlicher Höhepunkt.
Allemal frivol der Einstieg mit Brahms’ „Vier Klavierstücken“, op. 119. Intimere, persönlichere Abschiedsstücke gibt es kaum. Da spürt ein reifer Mann, wie dünn die Luft bereits geworden ist, und dennoch ist dabei nichts Weinerliches oder übertrieben Elegisches. Da handelt es sich um einzigartige, fast schüchterne Edelsteine übers Farewell-Sagen. Bei Buchbinder tröpfelt das gemächlich dahin ohne zu berühren. Alles zerfließt wie rinnende Wasserfarben und gerät dennoch nicht verdächtig in die Nähe von Chopins „Regentropfen“-Prélude. Zum Glück ist für das Pianoforte das Pedal längst erfunden, mit dessen inflationärem Gebrauch der späte Brahms nun in klebrige Nebelschwaden getaucht werden kann.
Und weiter ging’s mit privaten Tönen in Unverbindlichkeit: Schuberts Impromptus, D 935. Ebenso Charakterstücke aus der Endzeit: mal sentimental (ohne in Kitschregionen abzustürzen), mal trotzig oder skurril den frechen Jargon suchend, von Schubert in unfassbarer Art und Weise in andere Regionen (bessere Welten?) überhöht.
Maßlose Herausforderungen
Die Herausforderungen an den Interpreten scheinen maßlos. Buchbinder versucht’s mit Distanz, die Annäherung gelingt zwar klanglich nobel, der wienerische Schmäh bleibt aber vorerst noch draußen, das Doppelbödige fehlt ebenso wie das gefährdete Existenzielle oder Schuberts Todesnähe. Einfach darüber zu plaudern scheint Rezept und Devise geworden zu sein.
Sollte dieser charakteristische BrahmsSchubert-Mix Teil einer Programmidee gewesen sein, sie wurde nicht weiter verfolgt. Dabei hätte sich retrospektiv wie vorausblickend vieles angeboten (von Sweelinck bis Ives, Janáček, Webern oder Gershwin).
Buchbinder suchte lieber das gemachte Bett und zog seine Zirkusarena der Virtuosität vor, steht doch seine Beethoven-Sicht schon zu Lebzeiten unter Denkmalschutz. Kaum noch geschmierte Passagen, die „Appassionata“durfte nach allen Regeln der Kunst explodieren und in die Knochen fahren. Form, Struktur, Inhalt passten nachdrücklich, keine Fragen blieben offen.
Alle im Publikum schienen versöhnt und dankbar, nachdem Buchbinder sich endlich frei und warm gespielt hatte. Picobello die Zugaben: das Finale aus Beethovens „Sturm“-Sonate in fast magischer Durchsichtigkeit der Sechszehntel-Motorik und in kostbarer nuancenreicher Aufmachung. Schließlich noch ein Schubert-Impromptu-Annäherungsversuch: perfekt im Jargon der Wiener Vorstadt: das muss auch noch in Liechtenthal so gehört worden sein.