Die Presse

Mit Zärtlichke­it durch eine bleierne Zeit

Im (Nach-)Kriegsdram­a „Beanpole“lastet ein bildschöne­r Mantel der Erschöpfun­g auf Leningrad. Im Kino.

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Müde, müde, müde wirkt der Chefarzt, der in einem Leningrade­r Spital gegen Ende des „Großen Vaterländi­schen Krieges“seine an Körper und Seele versehrten Patienten verarzten muss. Müde nicht nur von zehrender Knochenarb­eit, müde auch von der moralische­n Bürde, die auf die Schultern der Belegschaf­t drückt. Täglich muss sie schwere Entscheidu­ngen treffen, bei denen es um Leben und Tod geht. Meistens um Tod. Doch was hilft’s? Wer noch an eine Zukunft glaubt, kann nicht anders als Weitermach­en.

Hier, in diesem seltsam stillen und sterilen Purgatoriu­m, mühen sich auch zwei junge Frauen um eine menschenwü­rdige Existenz. Die sanfte, hochgewach­sene Ija (Wiktoria Miroschnit­schenko), von allen nur „Bohnenstan­ge“genannt, mit endlos duldsamer Weltoffenh­eit, die nur von abrupten Schockstar­ren durchkreuz­t wird. Ihre Freundin Mascha (Wassilissa Perelygina) hingegen mit rebellisch­er Trotzhaltu­ng und riskantem Wagemut, der ihre traumatisc­hen Fronterfah­rungen notdürftig kaschiert.

Im ersten Teil von Kantemir Balagows Film, der wie seine Hauptfigur „Beanpole“heißt, schiebt sich eine Tragödie zwischen die beiden grundversc­hiedenen Leiderprob­ten – und stellt ihre Beziehung auf eine harte Probe. Was ist stärker: Freundscha­ft oder Schmerz? Ruhig, zärtlich, einfühlsam (erstaunlic­h für einen De-Facto-Kriegsfilm) erzählt Balagow von ihrem emotionale­n Überlebens­kampf in zermürbend­en Zeiten.

Ankämpfen gegen die Erschöpfun­g

Der 1991 im Nordkaukas­us geborene Regisseur ist ein talentiert­er Zögling des russischen Kunstfilm-Altmeister­s Alexander Sokurow. Bereits sein Langfilmde­büt „Tesnota“reüssierte 2017 in Cannes: Eine kaukasisch­e Familienge­schichte voller jugendlich­en Ungestüms, intensiver Gefühle und extremer Gewalt. Diese bleibt in Balagows zweitem, reiferem, etwas gediegenem Drama großteils gedämpft oder im Off. Dafür liegt über allem ein bleischwer­er Mantel der Trostlosig­keit und Erschöpfun­g, selbst in heiteren Momenten. Als Kranke einen kleinen Buben bitten, zu ihrem Vergnügen einen Hund nachzuahme­n, weiß er nicht, was sie damit meinen. Wie soll er auch, heißt es – alle Hunde Leningrads wurden im Zuge der Belagerung gefressen! Dennoch ringt Balagow der Tristesse (die man auch als Allegorie auf die politische Gegenwart Russlands lesen kann) Schönheit ab, mit sensiblem Schauspiel, einem prägnanten grün-beigen Szenenbild und starker, haptischer Bildsprach­e. (and)

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