Corona nach Omikron: Quo vadis, Virus?
Birgt das Risiko einer Mutation, weshalb die nun angestrebte Strategie der „Durchseuchung“ein Spiel mit dem Feuer ist.
Ersten Studienergebnissen zufolge ist die Omikron-Variante auch für bisher nicht immunisierte Personen weniger gefährlich als die davor dominierende Deltavariante. Einige sehen sich schon wieder einmal fast am Ende des Tunnels: So würden im Laufe der Zeit alle Viren durch Mutationen weniger gefährlich, bis von ihnen ebenso wenig Gefahr ausgeht wie von der saisonalen Grippe. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Die Logik der Evolution
Um herauszufinden, in welche Richtung sich das neuartige Coronavirus entwickelt, haben wir im Sommer 2021 am SchumpeterZentrum der Universität Graz ein theoretisches Modell entworfen, das die Ausbreitung und evolutionäre Weiterentwicklung eines Virus gleichermaßen simulieren kann. In der Studie, welche vor Kurzem von einer international begutachteten Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, standen zwei Fragen im Vordergrund: Welche Charakteristika erweisen sich bei Viren als besonders vorteilhaft (und bieten somit einen evolutionären Vorteil)? Wie wirken sich Eindämmungsmaßnahmen auf die langfristige Evolution eines Virus aus?
Die Ergebnisse sind ernüchternd. So zeigt sich, dass eine Mutation, die zu niedrigerer Sterblichkeit führt, per se keinen evolutionären Vorteil für diese Variante bietet. Der im Durchschnitt niedrigere Schweregrad von Omikron ist daher eher ein glücklicher Zufall. Diese Tatsache wird auch durch die Evolution des SarsCoV2-Virus vor Omikron belegt: Die Varianten Delta und Alpha führen öfter zu schweren und kritischen Verläufen als der ursprünglich in Wuhan entdeckte Wildtyp. Das scheint übrigens für bislang nicht immunisierte Menschen auch auf Omikron zuzutreffen. Im Modell können sich hingegen besonders jene Varianten besonders stark ausbreiten, die eine höhere Infektiosität, eine geringere Latenzzeit (jene Zeitspanne, die zwischen der eigenen Infektion und dem Beginn der eigenen Infektiosität vergeht) und eine längere infektiöse Periode aufweisen. Vorläufige Daten zu Omikron bestätigen zumindest die ersten beiden Vorhersagen.
Ungewollte Nebeneffekte
Interessanterweise zeigt das Modell auch, dass die Ausgestaltung von Eindämmungsmaßnahmen einen Einfluss auf die Richtung der viralen Entwicklung nehmen könnte. Werden beispielsweise symptomatische Personen isoliert, bremst das zwar zunächst die Ausbreitung des Virus. Jedoch stellen sich in diesem Fall höhere Anteile an präsymptomatischer und asymptomatischer Übertragung als für das Virus vorteilhaft heraus, weshalb diese Charakteristika durch die evolutionäre Selektion begünstigt werden. Daten
aus der englischen ZOE-CovidStudie zeigen, dass Covid-19-Infektionen mittlerweile weniger oft zu den klassischen Covid-Symptomen Husten, Fieber und Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn führen. Das ist insofern relevant, als diese Symptome oftmals als eine Art ungenauer Covid-19-Test verwendet werden: Hustende Menschen werden nach Möglichkeit eher vermieden, Fieberkontrollen an neuralgischen Punkten wie auf Flughäfen sollen Infizierte frühzeitig aus dem Verkehr ziehen, und ein verlorener Geruchssinn gilt zumindest als eine Art Selbsttest. Zusätzlich werden Covid-19-Tests (und damit eine staatlich verordnete Isolation) in einigen Ländern an diese Symptome geknüpft. Wie das Modell zeigt, kann diese Politik unbeabsichtigte Nebenwirkungen hervorrufen und diese Maßnahmen so im Laufe der Zeit abstumpfen. Ob diese Symptomveränderungen auch in der realen Welt ein Produkt evolutionärer Selektion sind, müsste freilich eingehender untersucht werden.
Die zentrale Rolle für die langfristige Entwicklung der epidemiologischen Situation spielen im Modell ebenso wie in der Realität sogenannte Fluchtmutationen, denen es gelingt, einen Teil der Immunität auszuhebeln, die durch eine Impfung oder Infektion mit einer anderen Variante erworben wurde. Treten diese Fluchtmutationen häufig genug auf, wird das Virus „endemisch“und damit zum ständigen Begleiter. Da ein Teil der menschlichen Immunantwort auch gegen die neuen Varianten aktiv bleibt, wird es in diesem Fall immer neue Wellen geben, die aber mit einer immer niedrigeren Sterblichkeitsrate einhergehen. Für ungeimpfte Personen sind das jedoch keine guten Neuigkeiten. Im Gegenteil zeigt das Modell, dass virale Evolution erst dazu führt, dass wirklich jede und jeder irgendwann infiziert wird.
Die Simulationen zeigen außerdem, dass Maßnahmen zur Kontaktreduktion nicht nur die Infektionskurve
abflachen, sondern auch die Evolution des Virus bremsen können.
Ein Spiel mit dem Feuer
Jede neue Infektion birgt das Risiko einer Mutation, weshalb die derzeit anscheinend angestrebte Strategie der „Durchseuchung“ein Spiel mit dem Feuer ist. So ist es kein Wunder, dass vergangene Varianten insbesondere in jenen Ländern entdeckt wurden, in denen wirksame Kontaktbeschränkungen nicht oder erst zu spät eingeführt wurden. Doch auch eine Strategie, die darauf abzielt, die Kurve lediglich abzuflachen und die Infektionen auf einen längeren Zeitraum auszudehnen, um die Krankenhauskapazitäten nicht zu überlasten, birgt global gesehen Gefahren. In einem solchen Szenario bleibt dem Virus mehr Zeit, um sich zu verändern und Fluchtmutationen zu bilden, bevor das Reservoir an möglichen Wirten erschöpft ist. Daher wäre es wichtig, nicht nur die Krankenhauskapazitäten, sondern auch die Mutationsgefahr in die Ausgestaltung einer langfristigen Strategie einzubeziehen, zumindest im Kampf gegen künftige Pandemien. Da diese Anstrengung nur auf globaler Ebene Früchte tragen kann, unterstreicht die Covid-19-Krise hier ein weiteres Mal die Problematik fehlender internationaler Koordination in Fragen der Verbreitung von Infektionskrankheiten.
Und wieder: Die Impfung
Wie sich nicht nur am Beispiel der gegenwärtigen Proteste in Österreich zeigt, lassen sich hinreichend wirksame kontaktbeschränkende Maßnahmen nicht auf Dauer aufrechterhalten. Eine möglichst breite Verwendung und Weiterentwicklung von Impfstoffen ist daher auch der wichtigste Weg, um langfristig das Wachstum von Mutanten zu bremsen, nicht nur, um kurzfristig die Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden.
Einerseits muss Österreich hier vor der eigenen Haustüre kehren. Andererseits ist es von größter Wichtigkeit, Impfstoffe in jene Länder zu liefern, die immer noch über zu wenig (wirksamen) Impfstoff verfügen. So könnten wir uns als Gesellschaft Zeit verschaffen, um uns an das Virus anzupassen. Neben der regelmäßigen Adaptierung von Covid-19-Impfstoffen analog zur Influenza-Impfung dürfte hier die Massenproduktion der vielversprechenden neuen Medikamente zur Behandlung von Covid-19 von größter Bedeutung sein.