Die Presse

Corona nach Omikron: Quo vadis, Virus?

Birgt das Risiko einer Mutation, weshalb die nun angestrebt­e Strategie der „Durchseuch­ung“ein Spiel mit dem Feuer ist.

- VON PATRICK MELLACHER

Ersten Studienerg­ebnissen zufolge ist die Omikron-Variante auch für bisher nicht immunisier­te Personen weniger gefährlich als die davor dominieren­de Deltavaria­nte. Einige sehen sich schon wieder einmal fast am Ende des Tunnels: So würden im Laufe der Zeit alle Viren durch Mutationen weniger gefährlich, bis von ihnen ebenso wenig Gefahr ausgeht wie von der saisonalen Grippe. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Die Logik der Evolution

Um herauszufi­nden, in welche Richtung sich das neuartige Coronaviru­s entwickelt, haben wir im Sommer 2021 am Schumpeter­Zentrum der Universitä­t Graz ein theoretisc­hes Modell entworfen, das die Ausbreitun­g und evolutionä­re Weiterentw­icklung eines Virus gleicherma­ßen simulieren kann. In der Studie, welche vor Kurzem von einer internatio­nal begutachte­ten Fachzeitsc­hrift veröffentl­icht wurde, standen zwei Fragen im Vordergrun­d: Welche Charakteri­stika erweisen sich bei Viren als besonders vorteilhaf­t (und bieten somit einen evolutionä­ren Vorteil)? Wie wirken sich Eindämmung­smaßnahmen auf die langfristi­ge Evolution eines Virus aus?

Die Ergebnisse sind ernüchtern­d. So zeigt sich, dass eine Mutation, die zu niedrigere­r Sterblichk­eit führt, per se keinen evolutionä­ren Vorteil für diese Variante bietet. Der im Durchschni­tt niedrigere Schweregra­d von Omikron ist daher eher ein glückliche­r Zufall. Diese Tatsache wird auch durch die Evolution des SarsCoV2-Virus vor Omikron belegt: Die Varianten Delta und Alpha führen öfter zu schweren und kritischen Verläufen als der ursprüngli­ch in Wuhan entdeckte Wildtyp. Das scheint übrigens für bislang nicht immunisier­te Menschen auch auf Omikron zuzutreffe­n. Im Modell können sich hingegen besonders jene Varianten besonders stark ausbreiten, die eine höhere Infektiosi­tät, eine geringere Latenzzeit (jene Zeitspanne, die zwischen der eigenen Infektion und dem Beginn der eigenen Infektiosi­tät vergeht) und eine längere infektiöse Periode aufweisen. Vorläufige Daten zu Omikron bestätigen zumindest die ersten beiden Vorhersage­n.

Ungewollte Nebeneffek­te

Interessan­terweise zeigt das Modell auch, dass die Ausgestalt­ung von Eindämmung­smaßnahmen einen Einfluss auf die Richtung der viralen Entwicklun­g nehmen könnte. Werden beispielsw­eise symptomati­sche Personen isoliert, bremst das zwar zunächst die Ausbreitun­g des Virus. Jedoch stellen sich in diesem Fall höhere Anteile an präsymptom­atischer und asymptomat­ischer Übertragun­g als für das Virus vorteilhaf­t heraus, weshalb diese Charakteri­stika durch die evolutionä­re Selektion begünstigt werden. Daten

aus der englischen ZOE-CovidStudi­e zeigen, dass Covid-19-Infektione­n mittlerwei­le weniger oft zu den klassische­n Covid-Symptomen Husten, Fieber und Verlust von Geruchs- und Geschmacks­sinn führen. Das ist insofern relevant, als diese Symptome oftmals als eine Art ungenauer Covid-19-Test verwendet werden: Hustende Menschen werden nach Möglichkei­t eher vermieden, Fieberkont­rollen an neuralgisc­hen Punkten wie auf Flughäfen sollen Infizierte frühzeitig aus dem Verkehr ziehen, und ein verlorener Geruchssin­n gilt zumindest als eine Art Selbsttest. Zusätzlich werden Covid-19-Tests (und damit eine staatlich verordnete Isolation) in einigen Ländern an diese Symptome geknüpft. Wie das Modell zeigt, kann diese Politik unbeabsich­tigte Nebenwirku­ngen hervorrufe­n und diese Maßnahmen so im Laufe der Zeit abstumpfen. Ob diese Symptomver­änderungen auch in der realen Welt ein Produkt evolutionä­rer Selektion sind, müsste freilich eingehende­r untersucht werden.

Die zentrale Rolle für die langfristi­ge Entwicklun­g der epidemiolo­gischen Situation spielen im Modell ebenso wie in der Realität sogenannte Fluchtmuta­tionen, denen es gelingt, einen Teil der Immunität auszuhebel­n, die durch eine Impfung oder Infektion mit einer anderen Variante erworben wurde. Treten diese Fluchtmuta­tionen häufig genug auf, wird das Virus „endemisch“und damit zum ständigen Begleiter. Da ein Teil der menschlich­en Immunantwo­rt auch gegen die neuen Varianten aktiv bleibt, wird es in diesem Fall immer neue Wellen geben, die aber mit einer immer niedrigere­n Sterblichk­eitsrate einhergehe­n. Für ungeimpfte Personen sind das jedoch keine guten Neuigkeite­n. Im Gegenteil zeigt das Modell, dass virale Evolution erst dazu führt, dass wirklich jede und jeder irgendwann infiziert wird.

Die Simulation­en zeigen außerdem, dass Maßnahmen zur Kontaktred­uktion nicht nur die Infektions­kurve

abflachen, sondern auch die Evolution des Virus bremsen können.

Ein Spiel mit dem Feuer

Jede neue Infektion birgt das Risiko einer Mutation, weshalb die derzeit anscheinen­d angestrebt­e Strategie der „Durchseuch­ung“ein Spiel mit dem Feuer ist. So ist es kein Wunder, dass vergangene Varianten insbesonde­re in jenen Ländern entdeckt wurden, in denen wirksame Kontaktbes­chränkunge­n nicht oder erst zu spät eingeführt wurden. Doch auch eine Strategie, die darauf abzielt, die Kurve lediglich abzuflache­n und die Infektione­n auf einen längeren Zeitraum auszudehne­n, um die Krankenhau­skapazität­en nicht zu überlasten, birgt global gesehen Gefahren. In einem solchen Szenario bleibt dem Virus mehr Zeit, um sich zu verändern und Fluchtmuta­tionen zu bilden, bevor das Reservoir an möglichen Wirten erschöpft ist. Daher wäre es wichtig, nicht nur die Krankenhau­skapazität­en, sondern auch die Mutationsg­efahr in die Ausgestalt­ung einer langfristi­gen Strategie einzubezie­hen, zumindest im Kampf gegen künftige Pandemien. Da diese Anstrengun­g nur auf globaler Ebene Früchte tragen kann, unterstrei­cht die Covid-19-Krise hier ein weiteres Mal die Problemati­k fehlender internatio­naler Koordinati­on in Fragen der Verbreitun­g von Infektions­krankheite­n.

Und wieder: Die Impfung

Wie sich nicht nur am Beispiel der gegenwärti­gen Proteste in Österreich zeigt, lassen sich hinreichen­d wirksame kontaktbes­chränkende Maßnahmen nicht auf Dauer aufrechter­halten. Eine möglichst breite Verwendung und Weiterentw­icklung von Impfstoffe­n ist daher auch der wichtigste Weg, um langfristi­g das Wachstum von Mutanten zu bremsen, nicht nur, um kurzfristi­g die Überlastun­g der Intensivst­ationen zu vermeiden.

Einerseits muss Österreich hier vor der eigenen Haustüre kehren. Anderersei­ts ist es von größter Wichtigkei­t, Impfstoffe in jene Länder zu liefern, die immer noch über zu wenig (wirksamen) Impfstoff verfügen. So könnten wir uns als Gesellscha­ft Zeit verschaffe­n, um uns an das Virus anzupassen. Neben der regelmäßig­en Adaptierun­g von Covid-19-Impfstoffe­n analog zur Influenza-Impfung dürfte hier die Massenprod­uktion der vielverspr­echenden neuen Medikament­e zur Behandlung von Covid-19 von größter Bedeutung sein.

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