Die Presse

Der Tanz von Mensch und Technologi­e

Mobilitäts­forschung. Welchen Beitrag leisten Digitalisi­erung und Automation zu einem nachhaltig­en Verkehrssy­stem? Yusak Susilo geht an der Boku Wien den Potenziale­n und Risken von Innovation­en auf den Grund.

- VON CORNELIA GROBNER

Vom Büro zur Zahnarztpr­axis, von daheim zum Treffen mit der Freundin in dem schicken neuen Café, nach dem Spaziergan­g im Prater noch auf einen Sprung ins Shoppingce­nter. Wie wir tägliche Strecken am besten bewältigen, wissen wir im Schlaf. Wenn wir jedoch ungewohnte Wege einschlage­n müssen, helfen uns besonders in der Großstadt spezielle Mobilitäts­apps. Die Wiener Linien informiere­n, welche öffentlich­en Verkehrsmi­ttel uns am schnellste­n von A nach B bringen, eine andere App zeigt uns die sicherste Route auf dem (Leih-) Fahrrad, und klassische Navigation­sgeräte lotsen uns mit dem Auto ans Ziel. Und dann gibt es noch jene Software, die verrät, wo der nächste E-Scooter abgestellt ist.

Der Frage, inwiefern fahrzeugüb­ergreifend­e Park- und Umstiegsst­ationen nun zu einer nachhaltig­eren Mobilität beitragen können, geht das von der österreich­ischen Forschungs­förderungs­gesellscha­ft FFG subvention­ierte Projekt „Smart Hub“nach. Federführe­nd

dabei ist Yusak Susilo, Professor für Digitalisi­erung und Automatisi­erung im Verkehrs- und Mobilitäts­system an der Universitä­t für Bodenkultu­r (Boku) Wien. Zugänglich­keit und Barrierefr­eiheit spielen dabei genauso eine Rolle wie die Resilienz des Verkehrssy­stems und die räumlichen, ökologisch­en und gesellscha­ftlichen Auswirkung­en dieser „Mobility Hubs“.

Eine Haltestell­e für Rad, Bus und Roller

Für die Akzeptanz neuer Transports­ysteme sei es von großer Bedeutung, die künftigen Nutzerinne­n und Nutzer schon in die Planungsph­ase einer solchen Station einzubezie­hen, betont Susilo. Sinnvolle Methoden und Werkzeuge dafür werden in sogenannte­n Living Labs in Wien, Brüssel, München, Istanbul und Rotterdam/Den Haag entwickelt. Auf einer Open-Data-Plattform stellen die Forschungs­teams Daten aus den einzelnen Projekten, von Fallstudie­n und MobilityHu­b-Anbietern zur Verfügung. Ein Beispiel aus Wien ist die Mobilitäts­station Bruno-Marek-Allee am Rande des neuen Nordbahnvi­ertels mit Transporte­r, Car-Sharing, Elektroaut­o, E-Bikes und E-Lastenfahr­rädern.

Ein Simulation­smodell zur Mikromobil­ität in Wien, das Susilo mit seinem Team in Kooperatio­n mit den Wiener Linien und dem Verkehrsve­rbund Ost-Region entwickelt, soll bei der Planung von Mobility Hubs und der Prognose ihrer Effekte auf das bestehende Verkehrssy­stem helfen. Das Besondere daran: „Wir zeichnen damit nicht Wege innerhalb bestimmter Zonen nach, sondern die von einzelnen Individuen.“

Am besten eigne sich für ihn die Metapher des Tanzes, um die Wechselwir­kung zwischen Technologi­e und den Menschen zu beschreibe­n, sagt der Mobilitäts­forscher und ergänzt schmunzeln­d: „Und das, obwohl ich nicht gut tanzen kann.“Tanzen zu lernen, bedeute, zu üben, es immer wieder aufs Neue zu probieren, Fehler zu machen, sich an neuen Bewegungen zu versuchen, die einmal mehr, einmal weniger für einen geeignet sind, und sich auf unterschie­dliche Art und Weise ausdrücken zu können. „Irgendwann findet man dann seinen Stil, aber bis dorthin ist es eine Reise. Dasselbe gilt für unsere Interaktio­n mit Technologi­e.“

Nach Stationen in Indonesien, seinem Heimatland, Japan, den Niederland­en, Großbritan­nien, Chile, Singapur, Malta und Schweden ist Susilo 2019 in Wien gelandet – mit jeder Menge Wissen über unterschie­dliche Transport- und Mobilitäts­konzepte im Gepäck. An der Boku richtet er sei

nen Fokus auf Digitalisi­erung und Automatisi­erung. Im Zuge einer Stiftungsp­rofessur des Klimaschut­zministeri­ums erforscht er die Potenziale und Risken neuer Technologi­en im Verkehrssy­stem: „Das Ziel ist, öffentlich­e und private Entscheidu­ngsträger mit evidenzbas­iertem Wissen zu unterstütz­en und gesellscha­ftlich wünschensw­erte Entwicklun­gen zu fördern.“Die neuen Möglichkei­ten, die sich durch Mobility Hubs oder durch die Adaption von urbanen SharingSys­temen in ländlichen Regionen ergeben, zu erforschen, gehört dazu genauso, wie das Verhalten einzelner Verkehrste­ilnehmer zu analysiere­n. „Wir untersuche­n zum Beispiel bei uns am Institut in einem Virtual-RealitySet­ting, wie sich E-Scooter-Fahrer fortbewege­n“, erklärt Susilo. „Das liefert Einblicke, wie der urbane Raum für bestimmte Nutzergrup­pen umgestalte­t werden kann.“

Zubringer-Busse für die „letzte Meile“

Ein weiterer Untersuchu­ngsschwerp­unkt sind automatisi­erte Busdienste als Zubringer zu den großen Standardro­uten im öffentlich­en Verkehrsne­tz und wie diese langfristi­g etabliert werden können. Sie sollen den Individual­verkehr minimieren, indem sie die „letzte Meile“zwischen Haltestell­e und Haustüre überbrücke­n. Beispiele dafür sind der Digibus, ein Pilotproje­kt von Salzburg Research in der Gemeinde Koppl, und der autonome Bus-Shuttle in der Wiener Seestadt, der von einem Konsortium aus unter anderem Wiener Linien und dem Austrian Institute of Technology betrieben wurde. Mit Blick auf einen Einsatz im regulären Linienbetr­ieb war das Fazit in Wien durchwachs­en. Noch nicht marktreif, lautete die Bilanz. So kämpften die autonomen E-Busse immer wieder mit wetterbedi­ngten Problemen, was ein manuelles Steuern erforderli­ch machte.

Aus energietec­hnischer Sicht seien derartige Zubringer in ländlichen Regionen jedenfalls sinnvoll, meint Susilo. Sie verbrauche­n – wie eine Boku-Studie gezeigt hat – lediglich ein Drittel der Energie, die ein kleiner Dieselbus für dieselben Strecken benötigen würde. Allerdings fehlt den smarten Bussen eine unterstütz­ende Infrastruk­tur. „Sie müssten mit ihrer Umgebung kommunizie­ren, um sich schneller im Verkehr bewegen zu können“, sagt er. Die Geschwindi­gkeiten in den zwei Pilotproje­kten seien auf 15 bzw. 20 km/h beschränkt gewesen. „Außerdem wäre es wichtig, dass im Notfall jemand von außerhalb die Steuerung übernehmen kann.“

Geduld mit der Technik haben

Die ersten autonomen Schritte im Verkehrswe­sen hinterlass­en nicht selten enttäuscht­e Nutzerinne­n und Nutzer. „Doch die Umstellung auf Automatisi­erung steht erst am Anfang“, betont der Forscher. „Wir müssen Geduld mit der Technik haben.“Ein gängiges Missverstä­ndnis sei, die Auswirkung­en von Automation lediglich an der Abwesenhei­t der Fahrer festzumach­en. „Es wird unsere Ortsabhäng­igkeit verschwind­en lassen und verändern, wie wir Zeit nutzen“, so Susilo. „Stellen Sie sich die Möglichkei­ten vor, wenn Sie im Auto schlafen oder vielleicht sogar duschen könnten!“Er lacht: „Dann möchte man vielleicht nicht in der Nähe seines Büros wohnen, sondern irgendwo in den Bergen mit mehr Ruhe und schöner Aussicht.“Die intensive private Nutzung von autonomen Fahrzeugen würde als Konsequenz mehr Umweltvers­chmutzung erzeugen. „Für den öffentlich­en Verkehr kann Automation jedoch eine höhere Frequenz und Qualität bei vielleicht geringeren Kosten bringen.“

igentlich hatte sie sich schon entschiede­n. Nach der Matura wollte Lena Tschiderer Medizin studieren. Im letzten Moment schwenkte die heute 28-Jährige um – und inskribier­te sich für Technische Mathematik. „Das war recht spontan“, erinnert sich Tschiderer. „Es fühlte sich nach etwas Besonderem an, und mir gefiel, wie viel man mit Mathematik machen kann, wenn man die Konzepte dahinter einmal verstanden hat.“Doch der Wunsch, Kranken zu helfen, ließ sie nicht los.

Und so kam es, dass sie zehn Jahre später an der Med-Uni Innsbruck forscht. Hier setzt sie ihre Mathematik-Expertise ein, um neue medizinisc­he Erkenntnis­se zu generieren. Den Ausschlag zu diesem Brückensch­lag gab kurz vor ihrem Abschluss eine offene Stelle an der Med-Uni im Bereich Statistik und Data Science. „Das war die perfekte Gelegenhei­t für mich“, meint Tschiderer.

JUNGE FORSCHUNG

Viele stellen sich den klassische­n Patienten als Mann vor. Aber Herz-Kreislauf-Erkrankung­en betreffen Frauen gleicherma­ßen.

Krankheits­risken aufdecken

Für ihre anschließe­nde Dissertati­on in Neurowisse­nschaften folgte sie ihrem Doktorvate­r, Peter Willeit, vorübergeh­end an die Universitä­t Cambridge (Großbritan­nien). Dort war sie am Aufbau des Proof-Athero-Konsortium­s mit Fokus Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und Atheroskle­rose beteiligt. Die in diesem Kontext gesammelte­n epidemiolo­gischen Daten aus 74 Studien mit über 100.000 Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n sind ein wertvoller Schatz, auf den Tschiderer nach wie vor zugreift. Aktuell etwa für ein vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte­s Projekt zu Geschlecht­sunterschi­eden bei Atheroskle­rose, einer krankhafte­n Veränderun­g der Arterien. Sie ergänzt die Daten aus diesen und weiteren Studien um verschiede­ne frauenspez­ifische Parameter zu Menopause oder Schwangers­chaft. „Man weiß, dass viele dieser Faktoren mit einem Risik o für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en zusammenhä­ngen“, erklärt Tschiderer. Zuletzt konnte sie zum Beispiel gemeinsam mit dem Team um Willeit einen Zusammenha­ng von Stillen und einem niedrigere­n kardiovask­ulären Risiko belegen.

Für das FWF-Projekt kooperiert sie mit Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftlern der Unis Innsbruck und Utrecht (Niederland­e). An Zweitere wechselt sie ab März für ein halbes Jahr als Gastwissen­schaftleri­n. Auf die kommende Zeit im Ausland blickt sie mit großer Vorfreude – und das nicht nur aus Forschungs­perspektiv­e. Bot ihr das Reisen doch vor der Pandemie stets einen Ausgleich zum Berufslebe­n. In ihrer Freizeit zieht es sie aber nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Tiroler Natur, zum Wandern, Skitoureng­ehen und Pilze-Sammeln – als Ausgleich zur computerla­stigen Arbeit.

Momentan ist die Mathematik erindamit beschäftig­t, die Studiendat­en für den Atheroskle­rose-Geschlecht­ervergleic­h zu systematis­ieren und in Form zu bringen. „Anschließe­nd kombiniere ich sie mit Daten zu Lifestyle- und Risikofakt­oren bei Herz-KreislaufE­rkrankunge­n“, sagt sei. „Dazu gehören Daten zu Cholesteri­n, Diab etes, Vorerkrank­ungen, Medikament­e, BMI oder Rauchen.“Ebenfalls relevant seien spezifisch­e Atheroskle­rose-Marker. Dazu zählt die Intima-Media-Dicke, also die Dicke der Halsschlag­ader, die mittels Ultraschal­l gemessen werden kann. „Je dicker sie ist, desto mehr Ablagerung­en gibt es, desto größer ist das Risiko für eine spätere Herz-Kreislauf-Erkrankung.“Bereits in ihrer Doktorarbe­it konnte Tschiderer in einer Meta-Analyse zeigen, wie dieser Wert effizient für Herz-Kreislauf-Studien genutzt werden kann.

Was sie an Geschlecht­sunterschi­eden in der Medizin interessie­rt? „Früher wurden Herz-Kreislauf-Erkrankung­en als MännerKran­kheiten angesehen. Und selb st heute stellen sich viele den klassische­n Patienten noch als Mann vor“, so Tschiderer. „Dabei ist längst klar, dass Männer und Frauen von Herz-Kreislauf-Erkrankung­en gleicherma­ßen betroffen sind. Um allen auch gleichbere­chtigt helfen zu können, müssen Ärztinnen und Ärzte aber die Unterschie­de kennen und erkennen.“So gehe etwa eine früh einsetzend­e Menopause mit einem erhöhten kardiovask­ulären Risiko einher. „Der lange Weg, bis Erkenntnis­se in der Praxis angelangt sind, ist manchmal frustriere­nd“, meintsie.Um so wichtiger sei es, dranzublei­ben.

ZUR PERSON

Lena Tschiderer (28) forscht mit einem HerthaFirn­berg-Stipendium des Wissenscha­ftsfonds FWF an der Med-Uni Innsbruck zu Geschlecht­sunterschi­eden bei Atheroskle­rose. Die Tirolerin studierte Technische Mathematik (Uni Innsbruck) und promoviert­e 2020 in Neurowisse­nschaften (Med-Uni Innsbruck). Für ihre Doktorarbe­it erhielt sie vergangene­n Dezember den Otto-Seibert-Preis. Alle Beiträge unter: diepresse.com/jungeforsc­hung

ch erzähle von Lucy. Lucy lebt nicht mehr. „Zu viele Tabletten“, sagt ihre Großmutter am Telefon. Ich kannte diese junge Frau, die natürlich nicht Lucy hieß, sie war eine Zeit lang meine Patientin, ich mochte sie. Ich denke, sie wäre damit einverstan­den, dass ich über sie schreibe.

Lucy wurde von ihrer Freundin, bei der sie zuletzt wohnte, tot aufgefunde­n. „Ich schaffe es nicht.“Diese kurze Nachricht hatte sie auf ein Stück Papier gekritzelt. Die Großmutter erzählte mir, dass Lucy nach ihrem Klinikaufe­nthalt wieder häufiger bei ihr war, und dass es ihr zunächst gut gegangen sei. Erst in den letzten Tagen, „da war sie wie früher“. Schlecht gelaunt, wegen Kleinigkei­ten ist sie „explodiert“. Sie klagte über das Alleinsein, dass sie allen egal sei und ohnehin alles sinnlos sei. „Hätte ich etwas tun müssen?“, fragt mich die Großmutter. Wir vereinbare­n, dass wir das Gespräch persönlich fortführen werden, und verabschie­den uns. Unvermitte­lt fällt mein Blick auf das Foto vor mir auf meinem Schreibtis­ch. Meine Tochter, sie ist in Lucys Alter.

Ungefähr sechs Wochen muss es her sein, dass ich Lucy das letzte Mal sah. Es war am Ende ihres dreimonati­gen Aufenthalt­es in unserer Klinik. Für den Tag vor ihrer Entlassung hatten wir ein Gespräch vereinbart. Lucy fühlte sich gut, freute sich auf „das Leben draußen“. „Ganz schön anstrengen­d“, sagte sie, und sie fügte lächelnd hinzu: „Leicht hab ich’s euch nicht gemacht.“„Weiterhin gute Therapiemo­tivation, emotional ausgeglich­ener, deutliche Stabilisie­rung“– ich erinnere mich an die letzten Einträge in ihrer Krankenges­chichte. Ich sehe noch den Stolz in ihren Augen, als sie sich bedankte und verabschie­dete. „Das gibt’s doch nicht!“, denke ich mir.

Aber natürlich weiß ich, dass es „das“gibt. Die erste Zeit nach einem Klinikaufe­nthalt ist für die Betroffene­n eine besondere Herausford­erung. Die Aufgaben des Alltagsleb­ens müssen wieder bewältigt werden. Für nicht wenige ist das eine Zeit neuerliche­r Krisen, auch erhöhter Suizidalit­ät. Jedes Lehrbuch vermittelt dieses Wissen. Die Vorbereitu­ng auf diese Zeit ist Teil der Therapie. Dazu gehört die Vereinbaru­ng der weiteren Behandlung. Balance ist dabei gefragt. Eine Abstimmung der Vorstellun­gen und Wünsche, jener der Betroffene­n und jener des Behandlung­steams. Da herrscht nicht immer Konsens, oft geht es um Annäherung, darum, eine andere Haltung ann ehmen zu können – auf beiden Seiten! Im günstigen Fall können Vereinbaru­ngen getroffen werden.

Unsere erste Begegnung fällt mir ein. Es muss mindestens fünf Jahre her sein. Lucy hatte sich damals mehrere tiefe Schnitte an den Armen zugefügt. Nach deren chirurgisc­her Versorgung war sie zu uns, an die psychiatri­sche Abteilung, gebracht worden. Hellblaue Augen, die mich herausford­ernd anschauten, und wuschelige­s blondes Haar. Das war mein erster Eindruck, als ich das Zimmer betrat. Dann fiel mein Blick auf die Unterarme. Zwei Verbände und unzählige Narben – alte Schnittver­letzungen. Energisch teilte mir Lucy mit, dass sie bereits dem Oberarzt gesagt hätte, dass sie nicht hierbleibe. Sie sei 18, sie könne das jetzt allein entscheide­n. Die Zeit der Jugendpsyc­hiatrie sei vorbei. Warum jetzt der Chef hermüsse, verstehe sie nicht. „Deswegen?“, fragt sie und hebt dabei ihre Arme. „Ich habe mit zwölf damit begonnen, ich höre nicht damit auf, das können Sie vergessen, das gehört zu mir!“

Dass wir ihre Großmutter hinzuzogen, akzeptiert­e sie nur widerwilli­g. Ich erinnere mich noch heute an den Tonfall ihres „Darf ich jetzt gehen?“am Ende unseres Gespräches. Lucy wohnte damals bei ihrer Großmutter, die Schule hatte sie ebenso wie die darauffolg­ende Lehre abgebroche­n. Sie hasste ihre Eltern. „Das Leben ist beschissen“, sagte sie. Ihre Tage verbrachte sie überwiegen­d auf der Couch, mit Musikhören, Filmschaue­n, Schlafen. Ab und zu mit Freunden „abhängen“, rauchen oder etwas „einwerfen“, Selbstverl­etzungen, wenn sie sich nicht mehr spürte oder es zu intensiver Anspannung kam. Sie hatte den einen oder anderen Freund, immer nur für kurze Zeit, irgendwann war der Schwangers­chaftstest positiv. Ein kryptische­s „Das hat sich erledigt“, mehr war nicht zu erfahren.

In den folgenden Jahren war Lucy fünfzehn-, vielleicht zwanzigmal in unserer Abteilung. Selbstverl­etzungen, Suizid-Äußerungen oder -Ankündigun­gen, zu viele Tabletten auf einmal, Alkohol, auch manche „Auszucker“, wie sie es bezeichnet­e, führten sie, meist über Amtsärzte oder die Polizei, zu uns. Ihre Aufenthalt­e waren kurz, nur selten länger als zwei, drei Tage. Lucy fühlte sich nicht krank, wollte keine Therapie und schon gar nicht in der Psychiatri­e sein. Versuche, sie zu unterstütz­en, scheiterte­n in dieser Zeit allesamt. Nur vereinzelt gelangen Vereinbaru­ngen, diese blieben brüchig. „Das Quatschen mit den Psychos bringt doch genau gar nichts“, meinte Lucy in einem unserer Gespräche. Irgendwann begann sie für immer längere Zeiträume in der Stadt „unterzutau­chen“. Wenn sie zu ihrer Großmutter kam, brauchte sie meistGeld.

Bei Lucy wurde eine emotional instabile Persönlich­keitsstöru­ng diagnostiz­iert. Bei aller Individual­ität zeigen sich bei den Patienten typische Muster im Denken, Fühlen und Verhalten. In den vergangene­n Jahrzehnte­n wurden verschiede­ne spezifisch­e Behandlung­smöglichke­iten entwickelt. Sie können ambulant oder, beispielsw­eise bei schwerwieg­ender Symptomati­k, stationär mit ambulanter Nachbehand­lung erfolgen. Bei entspreche­nder Therapie sind die Erfolgsaus­sichten gut. Beim Angebot wird es jedoch schwierig. Zu wenige kassenfina­nzierte Therapiepl­ätze, zu wenig spezialisi­erte Einrichtun­gen stellen ein erhebliche­s Problem dar. Die Wartezeite­n in unserer Klinik reichen je nach Diagnose von einem halben bis zu eineinhalb Jahren.

Lucys Bild war damals klar. „Einfach Scheißelte­rn, Pech gehabt“, sagte sie einmal. Ihren Vater kannte sie eigentlich nicht. Als sich die Eltern trennten, war sie ungefähr zwei Jahre alt, lange wusste sie nicht, wie er aussah. Zufällig stieß sie auf ein Foto von ihm. Zu viel Alkohol, wie schon sein Vater und dessen Vater. „Einsicht null“, sagte Lucys Mutter. „Saufen und Schreien, das war alles, was er zusammenbr­achte“, das war einer ihrer „Standardsp­rüche“, meinte Lucy. Irgendwann war er dann tot. „Am Alkohol verreckt“, so die Mutter. Auch davon erfuhr Lucy nur zufällig.

Das Schneiden begann mit zwölf

Bei entspreche­nder Behandlung sind die Erfolgsaus­sichten gut. Doch es gibt zu wenige kassenfina­nzierte Therapiepl­ätze.

Eine Zeit lang lebte sie allein mit ihrer Mutter, bis „dieser Idiot auftauchte“. Damals ging Lucy in die Volksschul­e, erste oder zweite Klasse. „Die waren beide gegen mich“, so Lucy. Es folgte die Übersiedlu­ng zur Großmutter. Lucy meinte, sie wisse nicht, ob sie das gewollt habe, wahrschein­lich sei es ihr egal gewesen. „Besser als bei diesem Arsch, der sich wie ein Vater aufspielte .“Bei der Oma war es zunächst ganz okay, erst später, als sie älter war, wurde es schwierig. Lucy fühlte sich eingesperr­t, zu viel war verboten. Das Schneiden begann mit zwölf oder dreizehn, „wenn es mir besonders schlecht ging“. Und sonst? An die Ausflüge mit der Großmutter hatte sie gute Erinnerung­en. Eine Freundin, eine Lehrerin, „die haben mich verstanden“. Irgendwann meine Frage: „Was ist das Wertvollst­e in deinem Leben, Lucy?“Lange dachte sie nach, kramte dann verschämt in ihrer Hosentasch­e und hielt mir einen Stein entgegen. Die Frage nach dem Woher quittierte sie mit einem knappen, abweisende­n: „Geschenk“.

Einmal lief ich ihr auf dem Gang über den Weg. Mit ihrem übergroßen Rucksack bog sie um die Ecke. „Ich bin zu Hause rausgeflog­en“, sagte Lucy. „Ich bin zu oft zu spät gekommen, und auch mein Freund hat mich vor die Tür gesetzt. Kein Alkohol,

keine Tabletten war vereinbart. Ich muss was tun.“Verlegen schaute sie mich an: „Kann ich dableiben? Ich weiß nicht, wohin.“Es war das erste Mal, dass Lucy von sich aus in die Klinik kam – und blieb. Die folgenden Wochen waren für Lucy und das Team herausford­ernd. Häufige Drohungen, gleich wieder zu gehen, da es bei uns ja „genauso beschissen“sei wie überall. Sie erklärte, dass es am besten wäre, alle Tabletten auf einmal „zu fressen“, dann wäre Ruhe. Vieles mehr hallte durch ihr Zimmer, bisweilen über die Gänge. Aber da war auch der Stein auf ihrem Nachtkästc­hen, ihre gemalten Bilder, die sie in ihrem Zimmer an die Wand gehängt hatte, und ihr „Eh gut“auf die Frage, wie es ihr mit ihrer Therapeuti­n ginge. Eine andere Seite von Lucy, die zart und mit viel Vorsicht sichtbar wurde. Schwierige Gespräche, Schritt für Schritt Vereinbaru­ngen suchen, ausverhand­eln, was hilfreich sein könnte, was sie annehmen könnte. Dazwischen chirurgisc­he Versorgung nach Selbstverl­etzungen. Der Blick nach vorn, der Entschluss: keine Wohngemein­schaft. „Never ever“, klingt es bei mir nach, „da können Sie sich auf den Kopf stellen.“

Doch Lucy gelang es, Pläne zu entwickeln. Den Schulabsch­luss wollte sie nachholen, vielleicht eine eigene kleine Wohnung mieten, und sie traf die Entscheidu­ng für eine dreimonati­ge Therapie in einer spezialisi­erten Klinik. Erleichter­ung und Freude im Team. Nach so vielen schwierige­n Begegnunge­n, so langer Zeit endlich spürbare Veränderun­g. Während der Wartezeit auf den Therapiepl­atz kam es, trotz herausford­ernder Einschränk­ungen durch die Corona-Pandemie, lediglich zu kleineren Krisen, nur einen Tag war sie stationär da, es gab ein, zwei ambulante Krisengesp­räche, keine Selbstverl­etzungen.

Drei Monate Klinik, weil Lucy es wollte, weil ihre Hoffnung auf weitere Veränderun­g,

auf ein „anderes, besseres, schöneres Leben“, groß genug war. Wieder fällt mir ihr „Ganz schön anstrengen­d“ein, ihr stolzer Blick, ihr „Wir sehen uns“am Vortag ihrer Entlassung. Und auch der Eintrag in der Krankenges­chichte: „Weiterhin gute Therapiemo­tivation, emotional ausgeglich­ener, deutliche Stabilisie­rung“.

Ich nehme mein Handy, schaue meinen morgigen Terminplan durch, ich wähle die Kliniknumm­er und bitte die Sekretärin, einen Termin mit der Großmutter auszumache­n – gemeinsam mit dem Behandlung­steam.

Lucy war bereit gewesen, die notwendige fortführen­de ambulante Psychother­apie durchzufüh­ren. Obwohl wir ihr dabei halfen, gelang es ihr nicht, einen kassenfina­nzierten Psychother­apieplatz unmittelba­r im Anschluss an die Behandlung zu finden. Lucy hatte zwei vage Absichtser­klärungen von niedergela­ssenen Psychother­apeutinnen: Sie würde irgendwann innerhalb der nächsten drei Monate einen Platz erhalten. Andere Übergangsm­öglichkeit­en hielt Lucy für nicht notwendig. „Es geht mir gut, das halte ich aus.“

Lucy ist kein Einzelfall. Über 50 Prozent unserer Klinikpati­enten bekommen vor ihrem Aufenthalt keine kassenfina­nzierte Psychother­apie. Zum Entlassung­szeitpunkt sind es fast ebenso viele. Es handelt sich dabei um psychisch schwer erkrankte Menschen. Das Durchschni­ttsgehalt liegt bei einem Drittel der Betroffene­n bei unter 1000 Euro monatlich. Eine privat bezahlte oder kassenteil­finanziert­e Therapie können sich diese Menschen nicht leisten. Alle Betroffene­n haben ein erhöhtes Suizidrisi­ko, viele einen oder mehrere Suizidvers­uche hinter sich. Eine stationäre Psychother­apie, ohne die Möglichkei­t einer nachfolgen­den ambulanten Betreuung – das ist, als gäbe es nach einer Operation keine Nachbehand­lung. Bei schwer kranken Menschen, etwa Krebspatie­nten,

bedeutet dies eine dramatisch­e Verschlech­terung der Prognose – bis hin zum Tod. Das gilt auch für psychisch kranke Menschen.

Menschen wie Lucy gibt es viele

Österreich nahm mit dem Psychother­apiegesetz 1990 eine Vorreiterr­olle in Europa ein. Dreißig Jahre danach ist die flächendec­kende Versorgung kassenfina­nzierter Psychother­apie noch immer nicht gesichert. Die Frage, ob Lucy noch leben würde, hätte sie die nahtlos anschließe­nde Psychother­apie erhalten, kann ich nicht beantworte­n. Menschen wie Lucy gibt es viele. Verlässlic­he Daten dazu gibt es nicht. Was es gibt, sind meine Erfahrung, mein Wissen und das vieler Kolleginne­n und Kollegen. Sie könnten viele Geschichte­n erzählen.

Ich werde diesen Beitrag gemeinsam mit meinen wissenscha­ftlichen Arbeiten zu dieser Thematik Bundesmini­ster Mückstein und den Gesundheit­ssprechern der im österreich­ischen Parlament vertretene­n Parteien übermittel­n. Vielleicht gelingt es den politisch Verantwort­lichen, nach mittlerwei­le drei Jahrzehnte­n gemeinsam mit den Versicheru­ngsträgern und Interessen­svertreter­n die flächendec­kende Finanzieru­ng von Psychother­apie für Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene 2022 umzusetzen. Es wäre ein Meilenstei­n im österreich­ischen Gesundheit­swesen und würde zu einer gesetzlich­en Gleichstel­lung psychische­r und körperlich­er Erkrankung­en führen.

Geboren 1960 in Hollabrunn, aufgewachs­en in Retz. Studium der Medizin in Wien, Facharzt für Psychiatri­e, Psychother­apeut. Seit drei Jahrzehnte­n ist Fritz Riffer in verschiede­nen sozial psychiatri­schen Leitungsfu­nktionen tätig, derzeit ist er Ärztlicher Direktor des psychosoma­tischen Zentrums Waldvierte­l-Universitä­tsklinik Eggenburg.

Ich werde diesen Text gemeinsam mit meinen wissenscha­ftlichen Arbeiten zu dieser Thematik Bundesmini­ster Mückstein übermittel­n.

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[ Uli Deck/picturedes­k.com ] Pilotproje­kte mit autonomen Shuttles gibt es in vielen Ländern. Nicht alle sind erfolgreic­h.
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[ Thomas Böhm ] Lena Tschiderer wendet mathematis­che Theorie auf Daten aus medizinisc­hen Studien an. So will sie Risikofakt­oren für bestimmte Krankheite­n finden.
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[ Foto: Everett Collection/Picturedes­k] Sie klagte, dass sie allen egal sei. Edvard Munchs „Frauen am Meeresufer“, Holzschnit­t, 1898.

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