Der Tanz von Mensch und Technologie
Mobilitätsforschung. Welchen Beitrag leisten Digitalisierung und Automation zu einem nachhaltigen Verkehrssystem? Yusak Susilo geht an der Boku Wien den Potenzialen und Risken von Innovationen auf den Grund.
Vom Büro zur Zahnarztpraxis, von daheim zum Treffen mit der Freundin in dem schicken neuen Café, nach dem Spaziergang im Prater noch auf einen Sprung ins Shoppingcenter. Wie wir tägliche Strecken am besten bewältigen, wissen wir im Schlaf. Wenn wir jedoch ungewohnte Wege einschlagen müssen, helfen uns besonders in der Großstadt spezielle Mobilitätsapps. Die Wiener Linien informieren, welche öffentlichen Verkehrsmittel uns am schnellsten von A nach B bringen, eine andere App zeigt uns die sicherste Route auf dem (Leih-) Fahrrad, und klassische Navigationsgeräte lotsen uns mit dem Auto ans Ziel. Und dann gibt es noch jene Software, die verrät, wo der nächste E-Scooter abgestellt ist.
Der Frage, inwiefern fahrzeugübergreifende Park- und Umstiegsstationen nun zu einer nachhaltigeren Mobilität beitragen können, geht das von der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG subventionierte Projekt „Smart Hub“nach. Federführend
dabei ist Yusak Susilo, Professor für Digitalisierung und Automatisierung im Verkehrs- und Mobilitätssystem an der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien. Zugänglichkeit und Barrierefreiheit spielen dabei genauso eine Rolle wie die Resilienz des Verkehrssystems und die räumlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser „Mobility Hubs“.
Eine Haltestelle für Rad, Bus und Roller
Für die Akzeptanz neuer Transportsysteme sei es von großer Bedeutung, die künftigen Nutzerinnen und Nutzer schon in die Planungsphase einer solchen Station einzubeziehen, betont Susilo. Sinnvolle Methoden und Werkzeuge dafür werden in sogenannten Living Labs in Wien, Brüssel, München, Istanbul und Rotterdam/Den Haag entwickelt. Auf einer Open-Data-Plattform stellen die Forschungsteams Daten aus den einzelnen Projekten, von Fallstudien und MobilityHub-Anbietern zur Verfügung. Ein Beispiel aus Wien ist die Mobilitätsstation Bruno-Marek-Allee am Rande des neuen Nordbahnviertels mit Transporter, Car-Sharing, Elektroauto, E-Bikes und E-Lastenfahrrädern.
Ein Simulationsmodell zur Mikromobilität in Wien, das Susilo mit seinem Team in Kooperation mit den Wiener Linien und dem Verkehrsverbund Ost-Region entwickelt, soll bei der Planung von Mobility Hubs und der Prognose ihrer Effekte auf das bestehende Verkehrssystem helfen. Das Besondere daran: „Wir zeichnen damit nicht Wege innerhalb bestimmter Zonen nach, sondern die von einzelnen Individuen.“
Am besten eigne sich für ihn die Metapher des Tanzes, um die Wechselwirkung zwischen Technologie und den Menschen zu beschreiben, sagt der Mobilitätsforscher und ergänzt schmunzelnd: „Und das, obwohl ich nicht gut tanzen kann.“Tanzen zu lernen, bedeute, zu üben, es immer wieder aufs Neue zu probieren, Fehler zu machen, sich an neuen Bewegungen zu versuchen, die einmal mehr, einmal weniger für einen geeignet sind, und sich auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken zu können. „Irgendwann findet man dann seinen Stil, aber bis dorthin ist es eine Reise. Dasselbe gilt für unsere Interaktion mit Technologie.“
Nach Stationen in Indonesien, seinem Heimatland, Japan, den Niederlanden, Großbritannien, Chile, Singapur, Malta und Schweden ist Susilo 2019 in Wien gelandet – mit jeder Menge Wissen über unterschiedliche Transport- und Mobilitätskonzepte im Gepäck. An der Boku richtet er sei
nen Fokus auf Digitalisierung und Automatisierung. Im Zuge einer Stiftungsprofessur des Klimaschutzministeriums erforscht er die Potenziale und Risken neuer Technologien im Verkehrssystem: „Das Ziel ist, öffentliche und private Entscheidungsträger mit evidenzbasiertem Wissen zu unterstützen und gesellschaftlich wünschenswerte Entwicklungen zu fördern.“Die neuen Möglichkeiten, die sich durch Mobility Hubs oder durch die Adaption von urbanen SharingSystemen in ländlichen Regionen ergeben, zu erforschen, gehört dazu genauso, wie das Verhalten einzelner Verkehrsteilnehmer zu analysieren. „Wir untersuchen zum Beispiel bei uns am Institut in einem Virtual-RealitySetting, wie sich E-Scooter-Fahrer fortbewegen“, erklärt Susilo. „Das liefert Einblicke, wie der urbane Raum für bestimmte Nutzergruppen umgestaltet werden kann.“
Zubringer-Busse für die „letzte Meile“
Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt sind automatisierte Busdienste als Zubringer zu den großen Standardrouten im öffentlichen Verkehrsnetz und wie diese langfristig etabliert werden können. Sie sollen den Individualverkehr minimieren, indem sie die „letzte Meile“zwischen Haltestelle und Haustüre überbrücken. Beispiele dafür sind der Digibus, ein Pilotprojekt von Salzburg Research in der Gemeinde Koppl, und der autonome Bus-Shuttle in der Wiener Seestadt, der von einem Konsortium aus unter anderem Wiener Linien und dem Austrian Institute of Technology betrieben wurde. Mit Blick auf einen Einsatz im regulären Linienbetrieb war das Fazit in Wien durchwachsen. Noch nicht marktreif, lautete die Bilanz. So kämpften die autonomen E-Busse immer wieder mit wetterbedingten Problemen, was ein manuelles Steuern erforderlich machte.
Aus energietechnischer Sicht seien derartige Zubringer in ländlichen Regionen jedenfalls sinnvoll, meint Susilo. Sie verbrauchen – wie eine Boku-Studie gezeigt hat – lediglich ein Drittel der Energie, die ein kleiner Dieselbus für dieselben Strecken benötigen würde. Allerdings fehlt den smarten Bussen eine unterstützende Infrastruktur. „Sie müssten mit ihrer Umgebung kommunizieren, um sich schneller im Verkehr bewegen zu können“, sagt er. Die Geschwindigkeiten in den zwei Pilotprojekten seien auf 15 bzw. 20 km/h beschränkt gewesen. „Außerdem wäre es wichtig, dass im Notfall jemand von außerhalb die Steuerung übernehmen kann.“
Geduld mit der Technik haben
Die ersten autonomen Schritte im Verkehrswesen hinterlassen nicht selten enttäuschte Nutzerinnen und Nutzer. „Doch die Umstellung auf Automatisierung steht erst am Anfang“, betont der Forscher. „Wir müssen Geduld mit der Technik haben.“Ein gängiges Missverständnis sei, die Auswirkungen von Automation lediglich an der Abwesenheit der Fahrer festzumachen. „Es wird unsere Ortsabhängigkeit verschwinden lassen und verändern, wie wir Zeit nutzen“, so Susilo. „Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor, wenn Sie im Auto schlafen oder vielleicht sogar duschen könnten!“Er lacht: „Dann möchte man vielleicht nicht in der Nähe seines Büros wohnen, sondern irgendwo in den Bergen mit mehr Ruhe und schöner Aussicht.“Die intensive private Nutzung von autonomen Fahrzeugen würde als Konsequenz mehr Umweltverschmutzung erzeugen. „Für den öffentlichen Verkehr kann Automation jedoch eine höhere Frequenz und Qualität bei vielleicht geringeren Kosten bringen.“
igentlich hatte sie sich schon entschieden. Nach der Matura wollte Lena Tschiderer Medizin studieren. Im letzten Moment schwenkte die heute 28-Jährige um – und inskribierte sich für Technische Mathematik. „Das war recht spontan“, erinnert sich Tschiderer. „Es fühlte sich nach etwas Besonderem an, und mir gefiel, wie viel man mit Mathematik machen kann, wenn man die Konzepte dahinter einmal verstanden hat.“Doch der Wunsch, Kranken zu helfen, ließ sie nicht los.
Und so kam es, dass sie zehn Jahre später an der Med-Uni Innsbruck forscht. Hier setzt sie ihre Mathematik-Expertise ein, um neue medizinische Erkenntnisse zu generieren. Den Ausschlag zu diesem Brückenschlag gab kurz vor ihrem Abschluss eine offene Stelle an der Med-Uni im Bereich Statistik und Data Science. „Das war die perfekte Gelegenheit für mich“, meint Tschiderer.
JUNGE FORSCHUNG
Viele stellen sich den klassischen Patienten als Mann vor. Aber Herz-Kreislauf-Erkrankungen betreffen Frauen gleichermaßen.
Krankheitsrisken aufdecken
Für ihre anschließende Dissertation in Neurowissenschaften folgte sie ihrem Doktorvater, Peter Willeit, vorübergehend an die Universität Cambridge (Großbritannien). Dort war sie am Aufbau des Proof-Athero-Konsortiums mit Fokus Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atherosklerose beteiligt. Die in diesem Kontext gesammelten epidemiologischen Daten aus 74 Studien mit über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind ein wertvoller Schatz, auf den Tschiderer nach wie vor zugreift. Aktuell etwa für ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt zu Geschlechtsunterschieden bei Atherosklerose, einer krankhaften Veränderung der Arterien. Sie ergänzt die Daten aus diesen und weiteren Studien um verschiedene frauenspezifische Parameter zu Menopause oder Schwangerschaft. „Man weiß, dass viele dieser Faktoren mit einem Risik o für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zusammenhängen“, erklärt Tschiderer. Zuletzt konnte sie zum Beispiel gemeinsam mit dem Team um Willeit einen Zusammenhang von Stillen und einem niedrigeren kardiovaskulären Risiko belegen.
Für das FWF-Projekt kooperiert sie mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Unis Innsbruck und Utrecht (Niederlande). An Zweitere wechselt sie ab März für ein halbes Jahr als Gastwissenschaftlerin. Auf die kommende Zeit im Ausland blickt sie mit großer Vorfreude – und das nicht nur aus Forschungsperspektive. Bot ihr das Reisen doch vor der Pandemie stets einen Ausgleich zum Berufsleben. In ihrer Freizeit zieht es sie aber nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Tiroler Natur, zum Wandern, Skitourengehen und Pilze-Sammeln – als Ausgleich zur computerlastigen Arbeit.
Momentan ist die Mathematik erindamit beschäftigt, die Studiendaten für den Atherosklerose-Geschlechtervergleich zu systematisieren und in Form zu bringen. „Anschließend kombiniere ich sie mit Daten zu Lifestyle- und Risikofaktoren bei Herz-KreislaufErkrankungen“, sagt sei. „Dazu gehören Daten zu Cholesterin, Diab etes, Vorerkrankungen, Medikamente, BMI oder Rauchen.“Ebenfalls relevant seien spezifische Atherosklerose-Marker. Dazu zählt die Intima-Media-Dicke, also die Dicke der Halsschlagader, die mittels Ultraschall gemessen werden kann. „Je dicker sie ist, desto mehr Ablagerungen gibt es, desto größer ist das Risiko für eine spätere Herz-Kreislauf-Erkrankung.“Bereits in ihrer Doktorarbeit konnte Tschiderer in einer Meta-Analyse zeigen, wie dieser Wert effizient für Herz-Kreislauf-Studien genutzt werden kann.
Was sie an Geschlechtsunterschieden in der Medizin interessiert? „Früher wurden Herz-Kreislauf-Erkrankungen als MännerKrankheiten angesehen. Und selb st heute stellen sich viele den klassischen Patienten noch als Mann vor“, so Tschiderer. „Dabei ist längst klar, dass Männer und Frauen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gleichermaßen betroffen sind. Um allen auch gleichberechtigt helfen zu können, müssen Ärztinnen und Ärzte aber die Unterschiede kennen und erkennen.“So gehe etwa eine früh einsetzende Menopause mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einher. „Der lange Weg, bis Erkenntnisse in der Praxis angelangt sind, ist manchmal frustrierend“, meintsie.Um so wichtiger sei es, dranzubleiben.
ZUR PERSON
Lena Tschiderer (28) forscht mit einem HerthaFirnberg-Stipendium des Wissenschaftsfonds FWF an der Med-Uni Innsbruck zu Geschlechtsunterschieden bei Atherosklerose. Die Tirolerin studierte Technische Mathematik (Uni Innsbruck) und promovierte 2020 in Neurowissenschaften (Med-Uni Innsbruck). Für ihre Doktorarbeit erhielt sie vergangenen Dezember den Otto-Seibert-Preis. Alle Beiträge unter: diepresse.com/jungeforschung
ch erzähle von Lucy. Lucy lebt nicht mehr. „Zu viele Tabletten“, sagt ihre Großmutter am Telefon. Ich kannte diese junge Frau, die natürlich nicht Lucy hieß, sie war eine Zeit lang meine Patientin, ich mochte sie. Ich denke, sie wäre damit einverstanden, dass ich über sie schreibe.
Lucy wurde von ihrer Freundin, bei der sie zuletzt wohnte, tot aufgefunden. „Ich schaffe es nicht.“Diese kurze Nachricht hatte sie auf ein Stück Papier gekritzelt. Die Großmutter erzählte mir, dass Lucy nach ihrem Klinikaufenthalt wieder häufiger bei ihr war, und dass es ihr zunächst gut gegangen sei. Erst in den letzten Tagen, „da war sie wie früher“. Schlecht gelaunt, wegen Kleinigkeiten ist sie „explodiert“. Sie klagte über das Alleinsein, dass sie allen egal sei und ohnehin alles sinnlos sei. „Hätte ich etwas tun müssen?“, fragt mich die Großmutter. Wir vereinbaren, dass wir das Gespräch persönlich fortführen werden, und verabschieden uns. Unvermittelt fällt mein Blick auf das Foto vor mir auf meinem Schreibtisch. Meine Tochter, sie ist in Lucys Alter.
Ungefähr sechs Wochen muss es her sein, dass ich Lucy das letzte Mal sah. Es war am Ende ihres dreimonatigen Aufenthaltes in unserer Klinik. Für den Tag vor ihrer Entlassung hatten wir ein Gespräch vereinbart. Lucy fühlte sich gut, freute sich auf „das Leben draußen“. „Ganz schön anstrengend“, sagte sie, und sie fügte lächelnd hinzu: „Leicht hab ich’s euch nicht gemacht.“„Weiterhin gute Therapiemotivation, emotional ausgeglichener, deutliche Stabilisierung“– ich erinnere mich an die letzten Einträge in ihrer Krankengeschichte. Ich sehe noch den Stolz in ihren Augen, als sie sich bedankte und verabschiedete. „Das gibt’s doch nicht!“, denke ich mir.
Aber natürlich weiß ich, dass es „das“gibt. Die erste Zeit nach einem Klinikaufenthalt ist für die Betroffenen eine besondere Herausforderung. Die Aufgaben des Alltagslebens müssen wieder bewältigt werden. Für nicht wenige ist das eine Zeit neuerlicher Krisen, auch erhöhter Suizidalität. Jedes Lehrbuch vermittelt dieses Wissen. Die Vorbereitung auf diese Zeit ist Teil der Therapie. Dazu gehört die Vereinbarung der weiteren Behandlung. Balance ist dabei gefragt. Eine Abstimmung der Vorstellungen und Wünsche, jener der Betroffenen und jener des Behandlungsteams. Da herrscht nicht immer Konsens, oft geht es um Annäherung, darum, eine andere Haltung ann ehmen zu können – auf beiden Seiten! Im günstigen Fall können Vereinbarungen getroffen werden.
Unsere erste Begegnung fällt mir ein. Es muss mindestens fünf Jahre her sein. Lucy hatte sich damals mehrere tiefe Schnitte an den Armen zugefügt. Nach deren chirurgischer Versorgung war sie zu uns, an die psychiatrische Abteilung, gebracht worden. Hellblaue Augen, die mich herausfordernd anschauten, und wuscheliges blondes Haar. Das war mein erster Eindruck, als ich das Zimmer betrat. Dann fiel mein Blick auf die Unterarme. Zwei Verbände und unzählige Narben – alte Schnittverletzungen. Energisch teilte mir Lucy mit, dass sie bereits dem Oberarzt gesagt hätte, dass sie nicht hierbleibe. Sie sei 18, sie könne das jetzt allein entscheiden. Die Zeit der Jugendpsychiatrie sei vorbei. Warum jetzt der Chef hermüsse, verstehe sie nicht. „Deswegen?“, fragt sie und hebt dabei ihre Arme. „Ich habe mit zwölf damit begonnen, ich höre nicht damit auf, das können Sie vergessen, das gehört zu mir!“
Dass wir ihre Großmutter hinzuzogen, akzeptierte sie nur widerwillig. Ich erinnere mich noch heute an den Tonfall ihres „Darf ich jetzt gehen?“am Ende unseres Gespräches. Lucy wohnte damals bei ihrer Großmutter, die Schule hatte sie ebenso wie die darauffolgende Lehre abgebrochen. Sie hasste ihre Eltern. „Das Leben ist beschissen“, sagte sie. Ihre Tage verbrachte sie überwiegend auf der Couch, mit Musikhören, Filmschauen, Schlafen. Ab und zu mit Freunden „abhängen“, rauchen oder etwas „einwerfen“, Selbstverletzungen, wenn sie sich nicht mehr spürte oder es zu intensiver Anspannung kam. Sie hatte den einen oder anderen Freund, immer nur für kurze Zeit, irgendwann war der Schwangerschaftstest positiv. Ein kryptisches „Das hat sich erledigt“, mehr war nicht zu erfahren.
In den folgenden Jahren war Lucy fünfzehn-, vielleicht zwanzigmal in unserer Abteilung. Selbstverletzungen, Suizid-Äußerungen oder -Ankündigungen, zu viele Tabletten auf einmal, Alkohol, auch manche „Auszucker“, wie sie es bezeichnete, führten sie, meist über Amtsärzte oder die Polizei, zu uns. Ihre Aufenthalte waren kurz, nur selten länger als zwei, drei Tage. Lucy fühlte sich nicht krank, wollte keine Therapie und schon gar nicht in der Psychiatrie sein. Versuche, sie zu unterstützen, scheiterten in dieser Zeit allesamt. Nur vereinzelt gelangen Vereinbarungen, diese blieben brüchig. „Das Quatschen mit den Psychos bringt doch genau gar nichts“, meinte Lucy in einem unserer Gespräche. Irgendwann begann sie für immer längere Zeiträume in der Stadt „unterzutauchen“. Wenn sie zu ihrer Großmutter kam, brauchte sie meistGeld.
Bei Lucy wurde eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Bei aller Individualität zeigen sich bei den Patienten typische Muster im Denken, Fühlen und Verhalten. In den vergangenen Jahrzehnten wurden verschiedene spezifische Behandlungsmöglichkeiten entwickelt. Sie können ambulant oder, beispielsweise bei schwerwiegender Symptomatik, stationär mit ambulanter Nachbehandlung erfolgen. Bei entsprechender Therapie sind die Erfolgsaussichten gut. Beim Angebot wird es jedoch schwierig. Zu wenige kassenfinanzierte Therapieplätze, zu wenig spezialisierte Einrichtungen stellen ein erhebliches Problem dar. Die Wartezeiten in unserer Klinik reichen je nach Diagnose von einem halben bis zu eineinhalb Jahren.
Lucys Bild war damals klar. „Einfach Scheißeltern, Pech gehabt“, sagte sie einmal. Ihren Vater kannte sie eigentlich nicht. Als sich die Eltern trennten, war sie ungefähr zwei Jahre alt, lange wusste sie nicht, wie er aussah. Zufällig stieß sie auf ein Foto von ihm. Zu viel Alkohol, wie schon sein Vater und dessen Vater. „Einsicht null“, sagte Lucys Mutter. „Saufen und Schreien, das war alles, was er zusammenbrachte“, das war einer ihrer „Standardsprüche“, meinte Lucy. Irgendwann war er dann tot. „Am Alkohol verreckt“, so die Mutter. Auch davon erfuhr Lucy nur zufällig.
Das Schneiden begann mit zwölf
Bei entsprechender Behandlung sind die Erfolgsaussichten gut. Doch es gibt zu wenige kassenfinanzierte Therapieplätze.
Eine Zeit lang lebte sie allein mit ihrer Mutter, bis „dieser Idiot auftauchte“. Damals ging Lucy in die Volksschule, erste oder zweite Klasse. „Die waren beide gegen mich“, so Lucy. Es folgte die Übersiedlung zur Großmutter. Lucy meinte, sie wisse nicht, ob sie das gewollt habe, wahrscheinlich sei es ihr egal gewesen. „Besser als bei diesem Arsch, der sich wie ein Vater aufspielte .“Bei der Oma war es zunächst ganz okay, erst später, als sie älter war, wurde es schwierig. Lucy fühlte sich eingesperrt, zu viel war verboten. Das Schneiden begann mit zwölf oder dreizehn, „wenn es mir besonders schlecht ging“. Und sonst? An die Ausflüge mit der Großmutter hatte sie gute Erinnerungen. Eine Freundin, eine Lehrerin, „die haben mich verstanden“. Irgendwann meine Frage: „Was ist das Wertvollste in deinem Leben, Lucy?“Lange dachte sie nach, kramte dann verschämt in ihrer Hosentasche und hielt mir einen Stein entgegen. Die Frage nach dem Woher quittierte sie mit einem knappen, abweisenden: „Geschenk“.
Einmal lief ich ihr auf dem Gang über den Weg. Mit ihrem übergroßen Rucksack bog sie um die Ecke. „Ich bin zu Hause rausgeflogen“, sagte Lucy. „Ich bin zu oft zu spät gekommen, und auch mein Freund hat mich vor die Tür gesetzt. Kein Alkohol,
keine Tabletten war vereinbart. Ich muss was tun.“Verlegen schaute sie mich an: „Kann ich dableiben? Ich weiß nicht, wohin.“Es war das erste Mal, dass Lucy von sich aus in die Klinik kam – und blieb. Die folgenden Wochen waren für Lucy und das Team herausfordernd. Häufige Drohungen, gleich wieder zu gehen, da es bei uns ja „genauso beschissen“sei wie überall. Sie erklärte, dass es am besten wäre, alle Tabletten auf einmal „zu fressen“, dann wäre Ruhe. Vieles mehr hallte durch ihr Zimmer, bisweilen über die Gänge. Aber da war auch der Stein auf ihrem Nachtkästchen, ihre gemalten Bilder, die sie in ihrem Zimmer an die Wand gehängt hatte, und ihr „Eh gut“auf die Frage, wie es ihr mit ihrer Therapeutin ginge. Eine andere Seite von Lucy, die zart und mit viel Vorsicht sichtbar wurde. Schwierige Gespräche, Schritt für Schritt Vereinbarungen suchen, ausverhandeln, was hilfreich sein könnte, was sie annehmen könnte. Dazwischen chirurgische Versorgung nach Selbstverletzungen. Der Blick nach vorn, der Entschluss: keine Wohngemeinschaft. „Never ever“, klingt es bei mir nach, „da können Sie sich auf den Kopf stellen.“
Doch Lucy gelang es, Pläne zu entwickeln. Den Schulabschluss wollte sie nachholen, vielleicht eine eigene kleine Wohnung mieten, und sie traf die Entscheidung für eine dreimonatige Therapie in einer spezialisierten Klinik. Erleichterung und Freude im Team. Nach so vielen schwierigen Begegnungen, so langer Zeit endlich spürbare Veränderung. Während der Wartezeit auf den Therapieplatz kam es, trotz herausfordernder Einschränkungen durch die Corona-Pandemie, lediglich zu kleineren Krisen, nur einen Tag war sie stationär da, es gab ein, zwei ambulante Krisengespräche, keine Selbstverletzungen.
Drei Monate Klinik, weil Lucy es wollte, weil ihre Hoffnung auf weitere Veränderung,
auf ein „anderes, besseres, schöneres Leben“, groß genug war. Wieder fällt mir ihr „Ganz schön anstrengend“ein, ihr stolzer Blick, ihr „Wir sehen uns“am Vortag ihrer Entlassung. Und auch der Eintrag in der Krankengeschichte: „Weiterhin gute Therapiemotivation, emotional ausgeglichener, deutliche Stabilisierung“.
Ich nehme mein Handy, schaue meinen morgigen Terminplan durch, ich wähle die Kliniknummer und bitte die Sekretärin, einen Termin mit der Großmutter auszumachen – gemeinsam mit dem Behandlungsteam.
Lucy war bereit gewesen, die notwendige fortführende ambulante Psychotherapie durchzuführen. Obwohl wir ihr dabei halfen, gelang es ihr nicht, einen kassenfinanzierten Psychotherapieplatz unmittelbar im Anschluss an die Behandlung zu finden. Lucy hatte zwei vage Absichtserklärungen von niedergelassenen Psychotherapeutinnen: Sie würde irgendwann innerhalb der nächsten drei Monate einen Platz erhalten. Andere Übergangsmöglichkeiten hielt Lucy für nicht notwendig. „Es geht mir gut, das halte ich aus.“
Lucy ist kein Einzelfall. Über 50 Prozent unserer Klinikpatienten bekommen vor ihrem Aufenthalt keine kassenfinanzierte Psychotherapie. Zum Entlassungszeitpunkt sind es fast ebenso viele. Es handelt sich dabei um psychisch schwer erkrankte Menschen. Das Durchschnittsgehalt liegt bei einem Drittel der Betroffenen bei unter 1000 Euro monatlich. Eine privat bezahlte oder kassenteilfinanzierte Therapie können sich diese Menschen nicht leisten. Alle Betroffenen haben ein erhöhtes Suizidrisiko, viele einen oder mehrere Suizidversuche hinter sich. Eine stationäre Psychotherapie, ohne die Möglichkeit einer nachfolgenden ambulanten Betreuung – das ist, als gäbe es nach einer Operation keine Nachbehandlung. Bei schwer kranken Menschen, etwa Krebspatienten,
bedeutet dies eine dramatische Verschlechterung der Prognose – bis hin zum Tod. Das gilt auch für psychisch kranke Menschen.
Menschen wie Lucy gibt es viele
Österreich nahm mit dem Psychotherapiegesetz 1990 eine Vorreiterrolle in Europa ein. Dreißig Jahre danach ist die flächendeckende Versorgung kassenfinanzierter Psychotherapie noch immer nicht gesichert. Die Frage, ob Lucy noch leben würde, hätte sie die nahtlos anschließende Psychotherapie erhalten, kann ich nicht beantworten. Menschen wie Lucy gibt es viele. Verlässliche Daten dazu gibt es nicht. Was es gibt, sind meine Erfahrung, mein Wissen und das vieler Kolleginnen und Kollegen. Sie könnten viele Geschichten erzählen.
Ich werde diesen Beitrag gemeinsam mit meinen wissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Thematik Bundesminister Mückstein und den Gesundheitssprechern der im österreichischen Parlament vertretenen Parteien übermitteln. Vielleicht gelingt es den politisch Verantwortlichen, nach mittlerweile drei Jahrzehnten gemeinsam mit den Versicherungsträgern und Interessensvertretern die flächendeckende Finanzierung von Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene 2022 umzusetzen. Es wäre ein Meilenstein im österreichischen Gesundheitswesen und würde zu einer gesetzlichen Gleichstellung psychischer und körperlicher Erkrankungen führen.
Geboren 1960 in Hollabrunn, aufgewachsen in Retz. Studium der Medizin in Wien, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapeut. Seit drei Jahrzehnten ist Fritz Riffer in verschiedenen sozial psychiatrischen Leitungsfunktionen tätig, derzeit ist er Ärztlicher Direktor des psychosomatischen Zentrums Waldviertel-Universitätsklinik Eggenburg.
Ich werde diesen Text gemeinsam mit meinen wissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Thematik Bundesminister Mückstein übermitteln.