Die nächste Runde im libyschen Drama
Regierungschef Dbeiba entging knapp einem Attentat. Das Parlament in Ostlibyen ernannte einen Gegenpremier. Das Land kippt in die nächste Krise.
Kairo/Tripolis. Der libysche Übergangspremier, Abdulhamid Dbeiba, stand am Donnerstag gleich zweimal in der Schusslinie. Einmal buchstäblich, als eine Gruppe bewaffneter Männer am Morgen seinen Konvoi beschoss, als Dbeiba auf dem Weg zurück zu seinem Haus in Tripolis im Westen des Landes war. Die Details blieben zunächst unklar. Die arabische Fernsehstation Al Jazeera veröffentlichte ein Foto, mutmaßlich vom angegriffenen Fahrzeug. Dort ist ein Einschussloch in der Windschutzscheibe zu sehen. Aber sowohl der Premier als auch sein Fahrer sollen unverletzt sein. Die Täter konnten fliehen.
Der zweite politische Schuss auf ihn wurde vom Parlament in Tobruk im Osten des Landes abgegeben. Das dortige Parlament wählte am Nachmittag kurzerhand einen anderen Premier, Ex-Innenminister Fathi Bashagha. Damit ist die Rivalität zwischen dem Westen und Osten des Landes wieder offen ausgebrochen. Denn Dbeiba macht keinerlei Anstalten, zurückzutreten und hat nun einen Rivalen dazubekommen, der ihm sein Amt streitig macht.
Das Legitimitätsproblem des Premiers
Hintergrund ist ein Machtvakuum oder besser gesagt ein Legitimitätsvakuum, das das nordafrikanische Land derzeit erlebt. Eigentlich hätten im Dezember Präsidentenwahlen und zu einem späteren Zeitpunkt Parlamentswahlen stattfinden sollen. Die Präsidentenwahlen waren im Dezember ohne Nennung eines neuen Termins abgesagt worden, und auch für die Parlamentswahlen wurde kein Zeitpunkt festgelegt. Damit stellt sich die Frage, mit welcher Legitimität Übergangspremier Dbeiba noch sein Amt in der Hauptstadt Tripolis ausübt. Geht es nach dem Parlament
im Osten, ist Dbeibas Mandat mit Absage der Wahlen ablaufen. Also sah sich das Parlament legitimiert, einen anderen Premier zu wählen.
Eigentlich hätten die Präsidentenwahlen einen politischen Neuanfang für Libyen bringen sollen, nachdem es seit dem Waffenstillstand im Oktober 2020 nicht mehr zu einer größeren militärischen Auseinandersetzung zwischen den Bürgerkriegsparteien gekommen ist. Das Problem dabei: Der rechtliche Rahmen für die Wahlen war undefiniert. Außerdem waren die drei aussichtsreichsten Hauptkandidaten äußerst umstritten: Da war einmal Saif al-Islam al-Gaddafi, der Sohn des 2011 gestürzten und getöteten Diktators Muammar al-Gaddafi. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl des internationalen Strafgerichtshofes vor. Innenpolitisch noch explosiver war die Kandidatur des Generals Khalifa Haftar – des Warlords, dem zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.
Und dann war da noch der jetzige Interimspremier Dbeiba, auf den nun der Anschlag verübt wurde. Der war eigentlich in einem von der UNO eingeleiteten Prozess vor einem Jahr als Übergangspremier bestimmt worden. Aber dabei gab es eine wichtige Bedingung, nämlich, dass Dbeiba bei Wahlen nicht mehr antreten darf. So stand über der Bewerbung der drei aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt ein großes rechtliches Fragezeichen. Mit der daraus resultierenden Absage der Wahlen, ohne neuen Termin, hängt der politische Prozess in Libyen nun seit Wochen vollkommen in der Luft.
Internationale Ratlosigkeit
Mit einem Übergangspremier, der keine Anstalten macht, sein Amt abzugeben, und einem Parlament, das im Osten des Landes einen rivalisierenden Premier aufstellt hat, steht Libyen de facto mit zwei Regierungen wieder genau dort, wo der Bürgerkrieg 2014 begonnen hatte. Der von der UNO eingeleitete Prozess, der das Land politisch vereinen sollte, ist damit ein Scherbenhaufen. International herrscht Ratlosigkeit. Die – mittlerweile gescheiterten – Wahlen waren bisher die einzige Strategie der internationalen Gemeinschaft, die nun keinerlei Plan B im Ärmel hat. Die große Gefahr heute ist nicht nur, dass Libyen wieder zwei Regierungen hat, sondern auch, dass die Rivalitäten wieder mit Waffengewalt ausgetragen werden. Das ist das schlechteste, aber leider kein unwahrscheinliches Szenario.