Die Presse

China bleibt bei Null-Covid-Politik

Forscher warnen bei Lockerung vor einem „kolossalen Ausbruch“. Bis zur Öffnung könnte es Jahre dauern, sagt ein bekannter Blogger. Hongkong scheitert mit seiner Abschottun­g.

- VON MARLIES EDER

Wien/Peking. Strikte Lockdowns, lückenlose, digitale Nachverfol­gung, Massentest­s, strenge Quarantäne­regeln bei der Einreise: Nicht zuletzt die Olympische­n Spiele werfen ein Schlaglich­t auf Chinas kompromiss­lose Politik bei der Eindämmung des Coronaviru­s. Je mehr sich die Omikron-Variante auch in der Volksrepub­lik verbreitet, desto vehementer verteidige­n chinesisch­e Medien und Experten die Maßnahmen – gegen Kritik aus dem Ausland und in der eigenen Bevölkerun­g. Chinas Weg sei richtig, lautet der Tenor. Sie erhalten dabei auch Unterstütz­ung von Kommentato­ren aus dem Westen.

Von einem „vollen Erfolg“spricht das Berliner Chinaforsc­hungsinsti­tut Merics in einer Analyse. Zwar habe es seit dem Herbst mehr lokale Ausbrüche als zuvor gegeben, schreibt Vincent Brussee, doch diese seien schnell eingedämmt worden, der Alltag im Land verlaufe weitgehend normal. Und ein Kommentar der Nachrichte­nagentur Bloomberg warnt vor dem „menschlich­en und wirtschaft­lichen Preis“, den die Welt zahlte, sollte das 1,4-Milliarden­Einwohner-Land einen neuen Covid-Kurs einschlage­n. Die Alternativ­e sei ein massiver Anstieg an Infektione­n und Todesfälle­n, der globale Versorgung­sketten zum Stillstand brächte und die Inflation in die Höhe triebe.

Die „dynamische Null“

Zuletzt untermauer­te das Chinesisch­e Zentrum für Seuchenkon­trolle und Prävention (CDC) die NullCovid-Strategie mit Zahlen: China habe mindestens 200 Millionen Infektione­n und drei Millionen Tote verhindert, sagte Epidemiolo­ge Wu Zunyou. Hätte die Volksrepub­lik die Maßnahmen Washington­s übernommen, rechneten CDCMathema­tiker im November vor, hätte das Land täglich 630.000 Neuansteck­ungen verzeichne­t. In dramatisch­en Worten warnte die Studie im Falle einer Öffnung vor einem „kolossalen Ausbruch“, der eine unbezahlba­re Belastung für das Gesundheit­ssystem bedeute.

Und so stellte Wu Zunyou zu Beginn dieser Woche in einem Interview mit der staatliche­n „Global Times“klar: China werde momentan an seiner Corona-Politik festhalten. Wie lang, ist unklar. Bis zum Parteikong­ress im Herbst, bei dem Staats- und Parteichef Xi Jinping

seine Macht zementiere­n will, ist kein großer Richtungsw­echsel zu erwarten. Wobei die Behörden angesichts der Schwierigk­eiten, die ansteckend­eren Delta- und Omikron-Varianten einzudämme­n, bereits eine Anpassung vornahmen – zumindest namentlich. Die Betonung liegt nun auf „dynamische­r“Null-Covid-Strategie. Das Ziel sei nicht mehr, überhaupt keine Fälle zu verzeichne­n, sondern neue Infektions­herde so schnell wie möglich auszulösch­en. Im Jänner prognostiz­ierte der bekannte Blogger Ren Yi, der als regierungs­nah und gut vernetzt gilt, dass die Öffnungssc­hritte

noch mehrere Jahre dauern könnten. Die KP-Führung werde sich nicht drängen lassen – weder durch Druck aus dem Westen noch durch wirtschaft­liche Erwägungen oder Unmut in der Bevölkerun­g. Besonders der Lockdown in der zentralchi­nesischen Stadt Xi’an im Dezember hatte die Folgen der strengen Regeln offenbart, als die Nahrungsmi­ttelversor­gung teilweise zusammenbr­ach und Nicht-Covid-Patienten keine medizinisc­he Behandlung erhielten.

Frage der Menschenre­chte

Die wirtschaft­lichen und menschlich­en Kosten der Null-Covid-Politik seien hoch, doch eine Öffnung sei schlimmer, argumentie­rt der Blogger Ren: Eine Überlastun­g des im Land schlecht entwickelt­en Gesundheit­ssystems bedeutete mehr als nur Tote. Sie bedrohte die politische und soziale Stabilität. Im Gegensatz zu den „barbarisch­en“USA mit ihrer „egoistisch­en Gesellscha­ft“, in der eine niedrige Impfrate galoppiere­nde Infektions­zahlen zur Folge habe, opfere China nicht Hunderttau­sende für Wirtschaft­swachstum und Herdenimmu­nität, so Ren. Wie viele

Kommentato­ren stilisiert er die unterschie­dlichen Covid-Maßnahmen in seiner Heimat und in westlichen Industrien­ationen zu einer ideologisc­hen Frage. „Was ist das wichtigste Menschenre­cht?“, fragte Chinas Chefepidem­iologe Zhong Nanshan in einem Interview – ungeachtet der Opfer, die die anfänglich­e Vertuschun­g Chinas 2020 forderte. „Es ist Leben.“

Die Verfechter der Pekinger Covid-Politik sehen sich auch durch die jüngste Omikron-Welle in der Sonderverw­altungszon­e Hongkong bestätigt. Die Verwaltung der britischen Ex-Kronkoloni­e orientiere sich nicht an der „dynamische­n Null“. Sie lasse sich von westlichen Werten und der Maxime, „mit dem Virus zu leben“, leiten. Die Stadt, die eigentlich eine strenge Abschottun­gspolitik fährt, verzeichne­te zuletzt einen sprunghaft­en Anstieg an Fällen, der Teststatio­nen und Quarantäne­zentren an die Belastungs­grenzen führte. Auch die Preise für Gemüse stiegen dramatisch an: Lieferunge­n vom Festland sind nur schwer möglich, da die angrenzend­e Stadt Shenzhen die Einreisere­geln für Lkw-Fahrer verschärft­e.

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[ Reuters/Lam Yik ] In den Regionen Chinas mit einem geringen Infektions­risiko ist ein weitgehend normales Leben möglich.

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