Die rundum verunsicherte ÖVP
Analyse. Immer neue Chats bringen immer mehr ÖVP-Politiker unter Druck. Was kommt da noch? Und was bedeutet das für die Volkspartei und ihren neuen Obmann?
Wien. In der ÖVP blickt man gerade mit einer Mischung aus Unsicherheit und Unbehagen in die Zukunft. Die Partei stellt sich eine Frage, auf die sie lang keine Antwort haben musste: Was kommt da in den nächsten Wochen und Monaten noch? Während der erfolgreichen Amtszeit von Sebastian Kurz war es stets die ÖVP, die Themen und Debatten vorgab. Jetzt wird die Partei regelmäßig von ihrer Vergangenheit eingeholt.
Und die heikle Lage dürfte sich weiter zuspitzen. Gerade laufen sich die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses noch warm. Am 2. März beginnen dann die Befragungen – der U-Ausschuss ist der ÖVP und ihrer mutmaßlichen Korruption gewidmet. Für den Auftakt wurden zwei prominente Auskunftspersonen geladen: Kanzler Karl Nehammer, heute Obmann und früher Generalsekretär der Volkspartei. Und Thomas Schmid, früherer Generalsekretär im Finanzministerium und heute Protagonist einiger Chat-Affären.
Schmids Handy ist nach wie vor ein Unsicherheitsfaktor für die ÖVP: Noch immer hat die Justiz nicht alle Nachrichten ausgewertet. Die Abgeordneten im U-Ausschuss haben erst vor einigen Wochen begonnen, die Aktenberge durchzuarbeiten. Sie können auch jederzeit um weitere Dokumente ansuchen. Und dann gibt es noch die Chats, die über das Innenministerium an die Öffentlichkeit gelangt sind – unfreiwillig. Ein Ex-Mitarbeiter widersetzte sich nämlich dem Auftrag, das Mobiltelefon von Michael
Kloibmüller, Kabinettschef etlicher ÖVP-Innenminister, zu vernichten. Stattdessen saugte er die Daten ab.
Das Onlinemedium „Zack Zack“und „Der Standard“berichten regelmäßig über Nachrichten. In den Kloibmüller-Chats zeigt sich das enge Netzwerk der ÖVP, vor allem der ÖVP Niederösterreich: Wie Landeshauptfrau Johanna MiklLeitner eindringlich auf Bekannte aufmerksam machte, die einen Job suchten. Wie Wolfgang Sobotka eine Liste mit Interventionen führte. Es sei um Bürgeranliegen gegangen, versichern beide Ex-Innenminister. Doch auch hier gilt: Was noch kommt, ist unklar. Sobotka denkt als Nationalratspräsident jedenfalls nicht daran, den Vorsitz im
U-Ausschuss aufzugeben. David Stögmüller (Grüne) appelliert via „Oberösterreichische Nachrichten“an ihn „zu überdenken, ob es der Politik gut tut, wenn er den Vorsitz weiterführt.“Die ÖVP hat sich in der Zwischenzeit einen Krisenmanager aus Deutschland geholt: Georg Streiter, ehemaliger Vize-Pressesprecher von Angela Merkel, berät das Ausschussteam.
Der einzige Ausweg für die ÖVP wäre eine Neuwahl. Ausgeschlossen ist das nicht – wahrscheinlich aber auch nicht. „Was soll uns das bringen?“, fragt ein Türkiser. Sobald sich der neue Nationalrat konstituiert habe, beginne das Spiel von vorn. Man würde den U-Ausschuss nur hinauszögern.
Ein Nachteil wäre auch, dass man mit einem Obmann in die Wahl gehen würde, der sich noch nicht profiliert hat. Der noch keine Vision konservativer Politik kreiert hat, die beide Welten – die türkise und die schwarze – zusammenführt. Die ersten großen Linien will Nehammer beim Parteitag am 14. Mai zeichnen. Bis dahin hofft man, dass der U-Ausschuss nicht eskaliert. Und die Pandemie abflacht.
Bislang ist man mit der Performance des neuen Bundeskanzlers intern recht zufrieden. Dass er die Denkfabrik seines Vorgängers im Kanzleramt aufgelöst hat, sei schon ein Zeichen, heißt es. Wenn auch nur ein kleines. Gleichzeitig verstehen viele Parteifreunde nicht, warum Nehammer den vielen Vorwürfen gegen ÖVP-Politiker nicht energischer entgegentritt. Oder entgegentreten lässt: von Ministern etwa oder von der Parteizentrale.
Sorgen in Sankt Pölten
Längst hat sich die türkise Nervosität auch auf die Landesparteien übertragen. Besonders auf jene, die in absehbarer Zeit Wahlen zu schlagen haben. In Niederösterreich ist man unglücklich darüber, dass neben Sobotka nun auch Mikl-Leitner („Rotes Gsindl“) peinlicherweise im Zentrum der Oppositionskritik steht.
Hinzu kommt eine große Unbekannte: Bei der Gemeinderatswahl in Waidhofen/Ybbs hat die Impfgegner-Partei MFG Ende Jänner aus dem Stand 17 Prozent geholt – und die ÖVP hat ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Eins zu eins lässt sich das freilich nicht auf die Landesebene umlegen, aber auch Mikl-Leitner muss um ihre Absolute zittern. Gleichzeitig vertraut man in St. Pölten auf die eigene Wahlkampfstärke. Und auf den Faktor Zeit: Die Landtagswahl soll plangemäß Ende Jänner 2023 stattfinden – nach einem kurzen, knackigen Wahlkampf. Wie 2018.
Unrund ist man derzeit auch in der Tiroler ÖVP des Günther Platter: Am 27. Februar werden im ganzen Land die Gemeinderäte neu gewählt – ohne Rückenwind von Sebastian Kurz. Dafür aber erstmals unter dem Damoklesschwert der diversen Chat-Affären.