Die Presse

Nathan Chen, ein Gold-Drama in fünf Akten

Eiskunstla­uf. Sein Vierfach-Spektakel brachte dem US-Star am Ende eines langen Weges tatsächlic­h den Olympiasie­g. Eine Peking-Sternstund­e.

- Aus Peking berichtet

Einer der schon jetzt eindrucksv­ollsten Auftritte dieser Winterspie­le ging am Donnerstag auf dem weiß schimmernd­en Eis des Capitol Indoor Stadions von Peking über die Bühne.

JOSEF EBNER

Nathan Chen lieferte ein technisch wie künstleris­ches Meisterstü­ck und vermochte dem enormen Erwartungs­druck standzuhal­ten. Ein Gold-Drama in fünf Akten.

1. Akt: Das Vorspiel

In den vier Jahren seit den Winterspie­len 2018 hatte sich alles auf diesen Olympia-Showdown zugespitzt: Nathan Chen, 22-jähriger US-Amerikaner, gegen Yuzuru Hanyu¯, 27-jähriger japanische­r Olympiasie­ger (2014, 2018). Ein weiteres großes Duell der Eiskunstla­uf-Geschichte nach Brian Orser gegen Brian Boitano, Katarina Witt gegen Debi Thomas oder Nancy Kerrigan gegen Tonya Harding.

Chen hatte im Vorfeld drei WM-Titel in Folge geholt, er war vom mächtigen US-Olympia-Broadcaste­r NBC zum Olympia-Star auserkoren worden. Hanyu¯ hingegen hatte eine Weile pausiert, er kurierte Verletzung­en aus – dann meldete er sich rechtzeiti­g im Dezember eindrucksv­oll zurück. Alles war angerichte­t.

2. Akt: Der Auftakt

Ein mit scheinbare­r Leichtigke­it gestandene­r vierfacher Flip und Lutz, dazu der Weltrekord für eine

Kurzkür: Schon das Kurzprogra­mm von Nathan Chen bei den Peking-Spielen wurde zum Glanzauftr­itt, die 2:40 Minuten zur Musik von Charles Aznavour brachten ihm Gold einen Riesenschr­itt näher. In den wenig ergiebigen Interviews danach wurde spätestens klar: Chen ist im Tunnel und bereits voll fokussiert auf das große Finale. Rivale Hanyu¯ landete nur auf Zwischenra­ng acht, weil ihm der vierfache Salchow misslang.

3. Akt: Die Kür

Als „Rocket Man“von Elton John seine ganze Kraft entfaltete, setzte Chen punktgenau und mit voller Entschloss­enheit einen vierfachen Lutz aufs Eis. Einer von vielen Gänsehaut-Momenten in seiner brillanten vierminüti­gen Kür im Capitol Indoor Stadion.

Am Ende hatte der US-Amerikaner unter anderem fünf Vierfach-Sprünge gezeigt und sogar beim sonst wenig enthusiast­ischen chinesisch­en Publikum Jubel ausgelöst. All das im zur Musikauswa­hl passenden Sternen-Outfit von Vera Wang. Auch Chens befreite Tanzeinlag­e im Finish, als alle Sprünge absolviert waren und Gold in Wahrheit längst feststand, passte ins Bild. Erstmals kam der sonst so ruhige Superstar aus sich heraus. Sein Triumph vor den Japanern Yuma Kagiyama und Sho¯ ma Uno fiel überlegen aus.

4. Akt: Das Nachspiel

„Natürlich habe ich immer von Olympia-Gold geträumt. Ich habe aber nie gedacht, dass ich es wirklich so weit schaffe in meiner Karriere“, erklärte Chen in Peking.

Doch seit Richard Button in den 40er und 50er dominierte wohl kein Eiskunstlä­ufer derart das Geschehen, spektakulä­rer war es seit Philippe Candeloro nicht mehr.

Chen reiht sich ein in die lange Liste der US-Eiskunstla­ufchampion­s mit asiatische­n Wurzeln. Seine Eltern immigriert­en 1988 aus Peking, seine Großmutter lebt immer noch dort. Chen ist das jüngste von fünf Kinder. Auch die fünffache Weltmeiste­rin Michelle Kwan sei eine große Inspiratio­n gewesen, erklärte der Nike-Star.

Ob er weitermach­en wird, ließ Chen offen. „Ich nehme mir ein wenig Zeit, um nachzudenk­en.“Im August wird er an die renommiert­e Yale University zurückkehr­en, um sein Studium zu beenden (Statistik und Datenwisse­nschaft). Auch ein Medizinstu­dium hat er einmal ins Auge gefasst.

5. Akt: Eine Ära endet

Titelverte­idiger Yuzuru Hanyu¯ wollte als zweiter Eiskunstlä­ufer nach Gillis Grafström in den 1920ern drei Olympia-Goldmedail­len hintereina­nder holen und scheiterte klar. Das Duell mit Chen kam erst gar nicht zustande, auch der Versuch, gleich zu Beginn seiner Peking-Kür mit dem vierfachen Axel eine Weltpremie­re zu landen, misslang. Der Viertplatz­ierte wirkte am Ende müde. Wie Chen sagte Hanyu¯ mit Blick in seine Zukunft: „Ich brauche etwas mehr Zeit, um nachzudenk­en.“

Sein Nachfolger auf dem Olympia-Thron erklärte: „Er wird für immer eine Ikone sein. Es war einfach eine Ehre, dass ich mit dem meiner Meinung nach größten Eiskunstlä­ufer laufen durfte.“

 ?? [ AFP/Antonin Thuillier ] ?? Vera Wang lieferte das Kostüm, Elton John die Musik: Der US-Amerikaner Nathan Chen am Ende seiner Ausnahmekü­r.
[ AFP/Antonin Thuillier ] Vera Wang lieferte das Kostüm, Elton John die Musik: Der US-Amerikaner Nathan Chen am Ende seiner Ausnahmekü­r.

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