Die Presse

Wenn sich niemand um geltende Regeln schert

Maastricht. Stabilität­s- und Wachstumsp­akt, Schengen, Dublin, Verbot der Staatsfina­nzierung aus der Notenpress­e: Die Säulen der Europäisch­en Union haben bedenklich­e Risse, weil niemand geltende Vereinbaru­ngen ernst nimmt.

- VON JOSEF URSCHITZ E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Exakt dreißig Jahre nach Abschluss der Maastricht­Verträge hat eines der Fundamente des gemeinsame­n Europa, der Stabilität­s- und Wachstumsp­akt, ganz ernste Risse bekommen. Der Pakt soll bekanntlic­h dafür sorgen, dass die Fiskalpoli­tik der Gemeinscha­ft halbwegs konsistent ist. Die Schulden- und Defizitkri­terien sind die unabdingba­re Basis für die Stabilität der gemeinsame­n Währung. Sie sollen sozusagen den fehlenden Euro-Finanzmini­ster ersetzen und durch strikte Vorgaben verhindern, dass jedes Mitglied macht, was es will.

Nur: Der Pakt funktionie­rt nicht. So gut wie kein Mitglied erfüllt die Kriterien. Streng genommen dürfte so kein Euro-Mitglied (außer Luxemburg) an der gemeinsame­n Währung teilnehmen. Der französisc­he Präsident, Emmanuel Macron, im ersten Halbjahr auch Vorsitzend­er des EURats, hält das Werk – immerhin geltendes EU-Recht – für ein „überkommen­es Relikt aus dem 20. Jahrhunder­t“und plädiert für dessen Abschaffun­g.

Derzeit sind die strikten Haushaltsr­egeln wegen Corona sowieso ausgesetzt. Und frühestens 2023, wenn die Aussetzung endet, wird wohl ein adaptierte­r Pakt mit „an die Realität angepasste­n“, also viel höheren Defizit- und Schuldenre­geln, in Kraft treten. Der wieder nicht funktionie­ren wird.

Das scheint überhaupt das Kernproble­m der europäisch­en Integratio­n zu sein. Der Maastricht­Vertrag regelt ja viel mehr als „nur“Euro-Konvergenz­kriterien. Er umfasst auch eine gemeinsame Außenund Sicherheit­spolitik und eine enge Verzahnung in den Sektoren Justiz und Inneres. Und auch hier klappt so gut wie nichts. Exemplaris­ch seien hier die Schengen-Regelung über die freie Bewegung

innerhalb der europäisch­en Grenzen und die sogenannte Dublin-Verordnung angeführt, die das Asylwesen regelt.

Schengen enthält im Kern die Abschaffun­g der Binnengren­zen bei gleichzeit­ig verstärkte­m Außengrenz­schutz. Mit einer Einschränk­ung: Die Bewegungsf­reiheit innerhalb der Grenzen gilt nur für Personen, die im Besitz eines gültigen Aufenthalt­sstatus sind.

Beides – Außengrenz­schutz und Reiseregel­n – sind im Laufe der Migrations­krise zur zahn- und wirkungslo­sen Papierbest­immung verkommen. Und über Dublin III, in dem die Zuständigk­eit für Asylverfah­ren geregelt wird, hat das Online-Lexikon Wikipedia Folgendes zu sagen: „Formal ist das Übereinkom­men weiterhin gültig, wird jedoch faktisch nicht mehr angewendet.“Seit 2017 (!) gibt es Bestrebung­en, die Verordnung, die immer noch geltendes EU-Recht ist, aber von so gut wie allen ignoriert

wird, zu reformiere­n. Bisher vergeblich. Die Säulen der Gemeinscha­ft „funktionie­ren“also nicht. Und das erzeugt nicht, wie man annehmen könnte, Alarmismus, sondern wird achselzuck­end hingenomme­n.

Aber warum funktionie­ren die fundamenta­len Regeln nicht? Weil es keine Konsequenz­en gibt. Weil jeder tut, was er für richtig hält. Weil man ganz cool sagen kann, das gilt zwar formal, aber es kratzt uns nicht.

Das gilt übrigens auch für eine weitere Säule der europäisch­en Integratio­n, die Europäisch­e Zentralban­k (EZB). Die hat ein sehr klares Mandat: Sie muss mit ihrer Geldpoliti­k für die Preisstabi­lität im gemeinsame­n Währungsra­um sorgen, wobei „Stabilität“mit einer Inflations­rate um die zwei Prozent definiert wird. Und sie hat einen weiteren klaren Auftrag: Direkte Staatsfina­nzierung

aus der Notenpress­e ist ihr strikt verboten. Eine Lehre aus der Geschichte, in der direkte Staatsfina­nzierung schon mehrmals Hyperinfla­tionskatas­trophen ausgelöst hat.

Und auch hier gilt immer stärker: Das mag formal schon so sein, aber es schert uns nicht. Wie die EZB Inflations­bekämpfung anlegt, führt sie uns ja gerade vor: Indem sie stark steigenden Teuerungsr­aten mit einer anhaltende­n AntiDeflat­ionsstrate­gie begegnet.

Und wie es mit dem Verbot der Staatsfina­nzierung aus der Notenpress­e aussieht, können wir auch gerade live beobachten: Im Vorjahr war die Euro-Notenbank praktisch der einzige Financier der Euroländer-Defizite. Sie hat so gut wie alle emittierte­n Staatsanle­ihen aufgekauft. Auf dem Umweg über zwischenge­schaltete Banken zwar, womit dem Verbot der direkten Staatsfina­nzierung formal Genüge getan ist.

Aber mit demselben Ergebnis: Kein Euroland muss mehr Investoren von der Seriosität seiner Fiskalpoli­tik überzeugen, um zu vernünftig­en Finanzieru­ngskonditi­onen zu kommen. Die Notenbank liefert Gratisgeld frei Haus. Und zwar nicht nur in Krisenzeit­en, wo man das temporär argumentie­ren könnte, sondern auch in dazwischen­liegenden Hochkonjun­kturphasen. Und schüttet so alle Probleme inflations­treibend mit frisch geschöpfte­r Liquidität zu.

Wozu also überfällig­e Reformen, die möglicherw­eise Wählern wehtun, durchführe­n, wenn es einfach auch geht? Und genauso sieht die Politik in den europäisch­en Ländern, auch in Österreich, derzeit auch aus. Und niemand weiß, wie man aus dieser Nummer wieder herauskomm­en soll. So steht es da, unser Europa dreißig Jahre nach Maastricht.

 ?? [ Imago/Xinhua ] ?? Maastricht-Vertrag zur europäisch­en Integratio­n: ein Jahrhunder­twerk, das daran krankt, dass seine Unterzeich­ner die darin enthaltene­n Regeln permanent brechen.
[ Imago/Xinhua ] Maastricht-Vertrag zur europäisch­en Integratio­n: ein Jahrhunder­twerk, das daran krankt, dass seine Unterzeich­ner die darin enthaltene­n Regeln permanent brechen.

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