Wenn sich niemand um geltende Regeln schert
Maastricht. Stabilitäts- und Wachstumspakt, Schengen, Dublin, Verbot der Staatsfinanzierung aus der Notenpresse: Die Säulen der Europäischen Union haben bedenkliche Risse, weil niemand geltende Vereinbarungen ernst nimmt.
Exakt dreißig Jahre nach Abschluss der MaastrichtVerträge hat eines der Fundamente des gemeinsamen Europa, der Stabilitäts- und Wachstumspakt, ganz ernste Risse bekommen. Der Pakt soll bekanntlich dafür sorgen, dass die Fiskalpolitik der Gemeinschaft halbwegs konsistent ist. Die Schulden- und Defizitkriterien sind die unabdingbare Basis für die Stabilität der gemeinsamen Währung. Sie sollen sozusagen den fehlenden Euro-Finanzminister ersetzen und durch strikte Vorgaben verhindern, dass jedes Mitglied macht, was es will.
Nur: Der Pakt funktioniert nicht. So gut wie kein Mitglied erfüllt die Kriterien. Streng genommen dürfte so kein Euro-Mitglied (außer Luxemburg) an der gemeinsamen Währung teilnehmen. Der französische Präsident, Emmanuel Macron, im ersten Halbjahr auch Vorsitzender des EURats, hält das Werk – immerhin geltendes EU-Recht – für ein „überkommenes Relikt aus dem 20. Jahrhundert“und plädiert für dessen Abschaffung.
Derzeit sind die strikten Haushaltsregeln wegen Corona sowieso ausgesetzt. Und frühestens 2023, wenn die Aussetzung endet, wird wohl ein adaptierter Pakt mit „an die Realität angepassten“, also viel höheren Defizit- und Schuldenregeln, in Kraft treten. Der wieder nicht funktionieren wird.
Das scheint überhaupt das Kernproblem der europäischen Integration zu sein. Der MaastrichtVertrag regelt ja viel mehr als „nur“Euro-Konvergenzkriterien. Er umfasst auch eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik und eine enge Verzahnung in den Sektoren Justiz und Inneres. Und auch hier klappt so gut wie nichts. Exemplarisch seien hier die Schengen-Regelung über die freie Bewegung
innerhalb der europäischen Grenzen und die sogenannte Dublin-Verordnung angeführt, die das Asylwesen regelt.
Schengen enthält im Kern die Abschaffung der Binnengrenzen bei gleichzeitig verstärktem Außengrenzschutz. Mit einer Einschränkung: Die Bewegungsfreiheit innerhalb der Grenzen gilt nur für Personen, die im Besitz eines gültigen Aufenthaltsstatus sind.
Beides – Außengrenzschutz und Reiseregeln – sind im Laufe der Migrationskrise zur zahn- und wirkungslosen Papierbestimmung verkommen. Und über Dublin III, in dem die Zuständigkeit für Asylverfahren geregelt wird, hat das Online-Lexikon Wikipedia Folgendes zu sagen: „Formal ist das Übereinkommen weiterhin gültig, wird jedoch faktisch nicht mehr angewendet.“Seit 2017 (!) gibt es Bestrebungen, die Verordnung, die immer noch geltendes EU-Recht ist, aber von so gut wie allen ignoriert
wird, zu reformieren. Bisher vergeblich. Die Säulen der Gemeinschaft „funktionieren“also nicht. Und das erzeugt nicht, wie man annehmen könnte, Alarmismus, sondern wird achselzuckend hingenommen.
Aber warum funktionieren die fundamentalen Regeln nicht? Weil es keine Konsequenzen gibt. Weil jeder tut, was er für richtig hält. Weil man ganz cool sagen kann, das gilt zwar formal, aber es kratzt uns nicht.
Das gilt übrigens auch für eine weitere Säule der europäischen Integration, die Europäische Zentralbank (EZB). Die hat ein sehr klares Mandat: Sie muss mit ihrer Geldpolitik für die Preisstabilität im gemeinsamen Währungsraum sorgen, wobei „Stabilität“mit einer Inflationsrate um die zwei Prozent definiert wird. Und sie hat einen weiteren klaren Auftrag: Direkte Staatsfinanzierung
aus der Notenpresse ist ihr strikt verboten. Eine Lehre aus der Geschichte, in der direkte Staatsfinanzierung schon mehrmals Hyperinflationskatastrophen ausgelöst hat.
Und auch hier gilt immer stärker: Das mag formal schon so sein, aber es schert uns nicht. Wie die EZB Inflationsbekämpfung anlegt, führt sie uns ja gerade vor: Indem sie stark steigenden Teuerungsraten mit einer anhaltenden AntiDeflationsstrategie begegnet.
Und wie es mit dem Verbot der Staatsfinanzierung aus der Notenpresse aussieht, können wir auch gerade live beobachten: Im Vorjahr war die Euro-Notenbank praktisch der einzige Financier der Euroländer-Defizite. Sie hat so gut wie alle emittierten Staatsanleihen aufgekauft. Auf dem Umweg über zwischengeschaltete Banken zwar, womit dem Verbot der direkten Staatsfinanzierung formal Genüge getan ist.
Aber mit demselben Ergebnis: Kein Euroland muss mehr Investoren von der Seriosität seiner Fiskalpolitik überzeugen, um zu vernünftigen Finanzierungskonditionen zu kommen. Die Notenbank liefert Gratisgeld frei Haus. Und zwar nicht nur in Krisenzeiten, wo man das temporär argumentieren könnte, sondern auch in dazwischenliegenden Hochkonjunkturphasen. Und schüttet so alle Probleme inflationstreibend mit frisch geschöpfter Liquidität zu.
Wozu also überfällige Reformen, die möglicherweise Wählern wehtun, durchführen, wenn es einfach auch geht? Und genauso sieht die Politik in den europäischen Ländern, auch in Österreich, derzeit auch aus. Und niemand weiß, wie man aus dieser Nummer wieder herauskommen soll. So steht es da, unser Europa dreißig Jahre nach Maastricht.