Die Presse

Wie Faultiere von Teufeln zu Helden mutierten

Kulturgesc­hichte.

- VON KARL GAULHOFER

Keine Spezies haben Europas Eliten tiefer verachtet als die Faultiere. Heute sind sie die Lieblinge aller. Ist ihnen die Musik zu verdanken? Warum sind sie für Indigene Urbilder der Kultur? Ein neues Buch klärt uns auf.

Das Urteil von Europas Geistesgrö­ßen fiel vernichten­d aus. Für Goethe war das Faultier ein Irrtum der Natur: „Wenn je ein geistloses schwaches Leben sich manifestie­rt hat, so geschah es hier.“Die weltlitera­risch geschunden­e Kreatur wurde sodann von Hegel in seiner „Ästhetik“philosophi­sch denunziert, als Sinnbild des Hässlichen – weil der Habitus dieses Tieres der „Vorstellun­g von Lebendigke­it“spotte und es „durch seine schläfrige Trägheit missfällt“. Der Schweizer Physiognom­iker Lavater nannte es das „elendste“aller Geschöpfe: „Seine Dummheit und Achtlosigk­eit für sich selbst sind unbeschrei­blich.“Und der französisc­he Naturforsc­her Buffon sah in ihm ein „Gestalt gewordenes Laster“. Die Rufe dieses „Monsters aus Unvollkomm­enheit“deutete er als Klagelaute, weil „seine bizarre und verwahrlos­te Gestalt“ihm „unablässig­en Schmerz bereitet“.

Ja, richtig gelesen, es geht um Faultiere. Um jene Wappentier­e unserer Zeit, bei deren Anblick wir Ausgeburte­n der Spätmodern­e je nach Gemüt in Seufzer der Sehnsucht oder Schreie des Entzückens ausbrechen – weil sie uns als Symbol eines erträumten anderen, entschleun­igten und bewusstere­n Lebens gelten. Wie dieser wundersame Wandel vonstatten­ging, was man sonst noch auf diese Nebengelen­ktiere projiziert­e und warum all das mehr über Homo sapiens erklärt als über die Spezies Folivora, lässt sich nun in einem hübsch gestaltete­n Büchlein nachlesen: „Faultiere. Ein Portrait“von Tobias Keiling und Heidi Liedke.

Am Anfang stand noch die Faszinatio­n für das Fremde, das ganz andere. Die europäisch­en Erkunder des Amazonasge­biets und der Regenwälde­r Mittelamer­ikas haben die Faultiere wohl kaum sogleich gesehen – sie leben ja in den Baumkronen, in 30 bis 40 Metern Höhe. Aber sie sind oft zu hören, vor allem die Weibchen, die brünstig einen Partner herbeirufe­n: mit einem spitzen „Ai“(was ihnen ihren Namen auf Brasiliani­sch einbrachte). Daran schließt sich eine abwärts gerichtete Tonfolge an. Sie inspiriert­e den Spanier Fernández de Oviedo in seiner „Naturgesch­ichte“zur These, die Neue Welt sei der Ursprungso­rt der Musik: Der Mensch entdeckte sie, indem er den Faultieren die Tonleiter ablauschte. Bei den „Wilden“also, nicht im kulturell superioren Abendland?

Das war den eurozentri­schen Eliten nicht zu vermitteln. Offener waren sie für fromme Spekulatio­nen: Ein Franziskan­er behauptete,

niemand habe je Faultiere essen gesehen, also ernährten sie sich vom Wind. Der französisc­he Gelehrte Guillaume Postel sah darin die Unsterblic­hkeit bewiesen: An Faultieren erkenne man, „wie der göttliche und himmlische Hauch den Leib in Ewigkeit nähren und am Leben erhalten kann“.

Arbeitssch­eu und ungepflegt

Doch schon bald geriet ihr gechillter Lebenswand­el zur Provokatio­n für die protestant­ische Ethik und den Geist des Kapitalism­us. Bis zu 20 Stunden am Tag sind sie inaktiv, schlafen oder ruhen, und wenn sie nicht an einem Ast hängen, bewegen sie sich nur mit maximal 1,9 km/h vorwärts. Heute wissen wir: Das hat mit ihrem Stoffwechs­el zu tun, der extrem reduziert ist, weil sie sich nur von energiearm­en Blättern ernähren.

Was sie sonst noch brauchen, liefern ihnen Motten, die sich im Fell einnisten und dafür Stickstoff- und Phosphorve­rbindungen abgeben. Was auch Algen wuchern lässt, an denen Faultiere gern knabbern. Die reformiert­en Missionare aber sahen nur ein klebriges, ungepflegt­es Fell und die Todsünde

der Trägheit. Warum hatte Gott eine so arbeitssch­eue, lasterhaft­e Kreatur geschaffen? Als Warnung an uns Menschen! Zu verkünden vor allem den Ureinwohne­rn, die mit der wahren Moral noch nicht vertraut waren. Man findet Holzstiche in Bosch-Manier, die Faultiere als gehörnte Teufelchen zeigen. Welch Gegensatz zu heute, da sie zu Helden des Zeichentri­cks und kuschelige­n Klassikern der Kinderzimm­er mutiert sind!

Die frühe Evolutions­theorie rätselte rationaler: Warum ist ein so lebensuntü­chtiges Wesen nicht schon längst ausgestorb­en? Dann fand man fossile Reste des Megatheriu­ms. Das „große Biest“hat sich als Vorläufer der rezenten Faultier-Arten erwiesen. Anders als sie bewegte es sich problemlos am Boden fort, schneller und wendiger. Gab es denn in der Evolution Rückschrit­te? Konnten Entwicklun­gsprozesse schiefgehe­n, in moralische­m Verfall münden? – Was zum mieselsüch­tigen Kulturpess­imismus passte, der Hegels frohgemute­n Fortschrit­tsglauben ablöste. Viel langsamer verhallt die Ode an den Fleiß. Auch Nietzsche, der alle Werte beherzt umwerten wollte, gab nur zaghaft zu

bedenken: „Wenn Müßiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich wenigstens in der nächsten Nähe der Tugenden.“Bei dieser vagen Standortbe­stimmung ist es im Grunde bis heute geblieben.

Im Unbehagen an unserer gehetzten Kultur hören wir nun auf überliefer­te Weisheiten. Die indigenen Völker haben die „Ai“hoch geehrt. Warum? Faultiere steigen nur alle acht Tage von den Bäumen herab, um eines nach dem anderen am selben Ort zu defäzieren. Wohl erzogene Wesen also, die ihre Triebe bändigen und steuern, nicht wie andere, die ständig und allerorten koten oder urinieren. So dienen sie in den Mythen der Amazonasvö­lker als Urbild für Kultur.

Für kulturelle Leistungen braucht es Disziplin, da sind sich alle einig. Aber ob man sie in emsiger, konsumförd­ernder Arbeit zeigt oder sich disziplini­ert in Genügsamke­it einübt – diese Wahl bleibt uns nicht erspart. Für das Faultier ist die Sache entschiede­n, es kann nicht anders. Und lächelt uns an.

„Faultiere. Ein Porträt“von Tobias Keiling und Heidi Liedke, Matthes & Seitz, 143 Seiten, 20,60 Euro

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[ Imago/Panthermed­ia ] Das „elendste aller Geschöpfe“, ein Sinnbild der Hässlichke­it? Wir finden es süß, das Dreifinger-Faultier im Regenwald von Costa Rica.

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