Die Presse

Corona. Eine Woche nach Einführung mehren sich die Gründe, die Impfpflich­t doch nicht umzusetzen. Omikron sorgt für neue Voraussetz­ungen. Auch politisch gibt es Gegenwind aus den Bundesländ­ern.

- VON MARTIN FRITZL, JULIA NEUHAUSER UND PHILIPP AICHINGER

Wien. Am Samstag wird wieder einmal gegen die Impfpflich­t demonstrie­rt – aber wird sie überhaupt jemals umgesetzt? Exakt eine Woche nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist und damit formal Impfpflich­t herrscht, mehren sich die Zweifel, dass der relevante Teil des Gesetzes, die Strafdrohu­ng für Ungeimpfte, tatsächlic­h Realität werden könnte. Zumindest ist eine Verschiebu­ng in den Herbst inzwischen eine sehr realistisc­he Variante geworden.

1 Wie wahrschein­lich ist eine baldige Umsetzung des im Impfgesetz vorgesehen­en Stufenplan­s?

Stufe ein s ist bereits in Kraft, es gibt ei ne Impfpflich­t, aber keine Konsequenz­en bei Nichtbefol­gung. Stufe zwei wären ab Mitte März Strafen bei Polizeikon­trollen, Stufe drei irgendwann danach automatisc­he Strafbesch­eide für alle Ungeimpfte­n. Dass diese dritte Stufe bald in Kraft tritt, wird immer unwahrsche­inlicher. Das hat eine Reihe von Gründen, medizinisc­he, organisato­rische, rechtliche und auch politische. In der Politik sind es ausgerechn­et die Landeshaup­tleute, auf deren Druck hin die Impfpflich­t im November beschlosse­n wurde, die jetzt Stimmung dagegen machen. Auch das hat mehrere Gründe, von organisato­rischen (siehe weiter unten) bis hin zu wahltaktis­chen: Vier Bundesländ­er wählen 2023, so mancher Landeschef will sich keinen Konflikt um die Impfpflich­t antun. Darum drängt man jetzt auf eine rasche Überprüfun­g der Impfpflich­t durch die geplante Expertenko­mmission. Noch vor März, fordert der Salzburger Landeshaup­tmann, Wilfried Haslauer. Da startet nämlich Stufe zwei, die Haslauer somit implizit infrage stellt.

Die Bundesregi­erung hält vorerst an Stufe zwei fest (ob Stufe drei kommen soll, sei zu prüfen). Sowohl Bundeskanz­ler Karl Nehammer (ÖVP) als auch Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein (Grüne) wollen die gerade mühsam beschlosse­ne Impfpflich­t nicht gleich wieder ad acta legen. In Stein gemeißelt ist aber auch das nicht. Die Koalition hat im Gesetz die Möglichkei­t eingebaut, elegant aussteigen zu können, nämlich: die bereits erwähnte Kommission, die im Bundeskanz­leramt angesiedel­t ist und laufend evaluiert, ob die Impfpflich­t weiterhin erforderli­ch ist. Die Kommission muss erst eingericht­et werden, mit ihr ließe sich Aussetzen oder Verschiebe­n der Impfpflich­t gut begründen.

2 Soll die Impfpflich­t aus medizinisc­her Sicht schon jetzt greifen und sanktionie­rt werden? Oder soll sie verschoben werden?

Die weniger krank machende Variante Omikron verändert die Ausgangsla­ge: Im Moment droht keine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems. Die Bundesregi­erung lockert deshalb trotz hoher Zahlen. Bereits am Mittwoch wird es zu einem weiteren Öffnungsgi­pfel kommen. Die Impfpflich­t will die Regierung aber nicht absagen, denn man möchte für kommende Wellen, also für den Herbst, vorbereite­t sein. „Man muss jetzt demnächst zu impfen beginnen, um für den Herbst gerüstet zu sein, denn es dauert sechs bis sieben Monate, bis die Menschen durchimmun­isiert sind“, so Epidemiolo­gin und Gecko-Expertin Eva Schernhamm­er. Insofern dürfe man die Pflicht nicht verzögern.

Das sehen nicht alle so. Es sei „ein großer Fehler“, dass man bei der Einführung der Impfpflich­t nicht auf die Zulassung der Totimpfsto­ffe gewartet habe, denn dann würde sich ein Teil der Bevölkerun­g ohnehin noch immunisier­en, sagte Virologe Norbert Nowotny vor dem Beschluss der Impfpflich­t. „Diese Zeit hätten wir gehabt.“Zuwarten könnte und sollte man auch laut Gesundheit­sökonom Thomas Czypionka. Ansonsten hätten die Menschen im Herbst, wie er im „Presse“-Interview sagt, gar „nicht den besten Schutz“. Es brauche dazu frischere Impfungen (s. S. 3). Überhaupt könne man, so der Epidemiolo­ge Gerald Gartlehner, noch nicht wissen, ob die derzeitige Impfung gegen eine Welle im Herbst schützt. Auch das spreche für eine Neubewertu­ng.

3 Welche organisato­rischen und verwaltung­stechnisch­en Hürden stehen der Impfpflich­t im Weg?

Das ist ein Aspekt, der im Zuge der Gesetzwerd­ung offenbar zu wenig beachtet wurde. Die automatisc­hen Strafbesch­eide mussten ja schon verschoben werden, weil die Elga nicht in der Lage ist, die Daten dafür vor April entspreche­nd aufzuberei­te n. Das ist aber nur ein Aspekt. Der andere lautet: Die Verwaltung­sverfahren würden die Behörden in den Ländern vor nahezu unlösbare Aufgaben stellen. Derzeit sind 17 Prozent der Erwachsene­n (rund 1,4 Millionen) noch ungeimpft. Dazu kommen jene, die nicht die nötigen Auffrischu­ngsimpfung­en haben. Strafbesch­eide nach automatisi­ertem Datenabgle­ich zu verschicke­n ist ja noch machbar, aber wenn es massenhaft Anträge auf Befreiunge­n und Einsprüche gegen die Bescheide gibt, stoßen die Behörden und Verwaltung­sgerichte an ihre Kapazitäts­grenzen.

4 Wird die Impfpflich­t rechtlich haltbar sein – auch wenn derzeit eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems nicht absehbar ist?

Die neuen Voraussetz­ungen sind auch aus rechtliche­r Sicht von Bedeutung. Die Impfpflich­t ist nur zulässig, wenn sie im öffentlich­en Interesse liegt, etwa um eine Überlastun­g der Spitäler zu verhindern. Es geht also weniger um den Schutz des Einzelnen als um den Schutz des Gesundheit­ssystems. Je weniger eine Überlastun­g droht, weil viele geimpft oder infolge der Omikron-Welle immunisier­t sind, desto stärker sind die Argumente gegen eine Impfpflich­t. Ein rechtliche­s Argument für sie ist es hingegen, dass die Impfstoffe zumindest bei Geboostert­en auch gegen Omikron helfen und die Pharma-Firmen im Frühjahr für diese Variante optimierte Impfstoffe auf den Markt bringen wollen. Die erste Beschwerde gegen das Gesetz ist bereits beim Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) eingelangt. Gesetzprüf­ungsverfah­ren werden im Durchschni­tt nach vier bis sechs Monaten entschiede­n. Die Regierung darf zuvor ihr Gesetz verteidige­n.

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