Schnee in Rimini, Seidl auf der Sonnenseite
Filmpremiere in Berlin. Am Freitag lief „Rimini“, Ulrich Seidls erster Spielfilm seit 2013, im Berlinale-Wettbewerb. Michael Thomas spielt darin einen alternden Schlagerstar, der herzhaft gegen die Dunkelheit ansingt. Teils mit Erfolg.
Der Nebel steht. Über den Wellen und Wegen, zwischen Palmen, Strandbars und Spielplätzen, vor Hotels und Wohnanlagen. Alles in Rimini ist dick eingesuppt: Es wirkt, als hätte jemand den Dunst tagelang in die Stadt hineingepumpt. So hat man es noch nicht gesehen, das Adriaparadies; zumindest, wenn man es nur mit Badetourismus verbindet. In Ulrich Seidls jüngstem Spielfilm, der nach dem uralten Küstenort benannt ist, mutet Rimini zuweilen an wie ein Gespensterreich, in dem verlorene Seelen umnachtet nach dem kaputten Lichtschalter tappen.
Umso heller strahlt die Glanzgestalt, die den Ankerpunkt seiner menschlichen Tragikomödie bildet: Richie Bravo, mit Haut und Haaren verkörpert von Michael Thomas, lässt sich nicht vom Nebel unterkriegen. In Rimini lebt seine Legende, hier ist er immer noch der Schlagerstar, dem die Herzen der Damen zufliegen. Hier leuchten die Gesichter im Publikum immer noch auf, wenn der Sänger die Bühne betritt und nach einer charmanten Conférence zum ersten inbrünstigen Song ansetzt: Amore mio! Merci, ché rie!
Schöner Schein gegen das schnöde Sein
Mit sehnsuchtsvollen Liedern setzt Bravo in den aufgehübschten Hallen hohler Bettenburgen „Hoffnung ins Herz“alternder Touristen, die hier auch jenseits der Hochsaison Omnibussen entströmen. Wie sie hat auch der Alleinunterhalter bessere Tage gesehen. Der Bauch muss per Mieder gezügelt werden, die Courage braucht hin und wieder etwas Unterstützung aus der Flasche. Am Abend, nach erfolgtem und meist kärglich entlohntem Auftritt, braucht sie noch ein bisschen mehr.
Doch das hindert Richie nicht daran, tagsüber seinen Charme sprühen zu lassen – zur Freude der Frauen, die ihn einst angehimmelt haben. Und noch immer nichts dagegen hätten, mit ihm ein Schäferstündchen zu halten. Ein Wunsch, den der Gentleman gern und geflissentlich erfüllt. Für einen kleinen Obolus, der später in den Schlünden von Spielautomaten verschwindet, sucht er die „belle donne“(darunter: Claudia Martini) in der Kemenate auf, im Pelzmantel und mit brummiger Brunftstimme.
So lässt es sich einigermaßen leben, mit etwas schönem Schein gegen das schnöde Sein. Bis eines Tages die Vergangenheit vor der Tür steht, mit Sonnenbrille und vorwurfsvollem Gesichtsausdruck: Tochter Tessa (Tessa Göttlicher), die Richie anno dazumal verlassen hat. Sie hat ihn aufgespürt und will monetäre Entschädigung für die erlittene Seelenpein. Hier, jetzt, sofort.
Kann man es dem Zuseher verübeln, dass ihm nun mulmig zumute wird? Lang ist’s her, seit Ulrich Seidl – spätestens seit „Hundstage“(2001) eine Portalfigur des österreichischen
Kunstfilms – ein größeres Projekt vollendet hat. „Hoffnung“, der letzte Teil seiner wuchtigen „Paradies“-Trilogie, feierte 2013 in Berlin Premiere. Zuletzt sorgte 2016 die dokumentarische Arbeit „Safari“für Aufsehen in Venedig. Doch die Vorstellung, die viele mit Seidls Kino verbinden, ist im Hinterkopf immer noch firm und intakt: Tableaux vivants, das triebhafte Treiben des Menschentiers im Gesellschaftsgefängnis, die fast schon sprichwörtlichen „Abgründe“. Man rechnet also mit gewissen, tendenziell eher schmerzlichen Dingen. Und mit gewissen anderen weniger.
Jetzt ist es nicht so, dass „Rimini“– der am Freitag im Berlinale-Wettbewerb Premiere hatte – Kenner von Seidls Schaffen ernstlich überraschen wird. En gros ist hier alles beim Alten, wie es sich für einen Künstler mit klarer ästhetischer Haltung gehört. Noch immer zerfließen die Grenzen zwischen Figuren und Darstellern. Noch immer wirken die Tränen echt, die Sexszenen ungestellt. Noch immer weiß man oft nicht, ob man lachen oder weinen oder beides auf einmal tun soll. Doch ungeachtet der vernebelten, auch von Wind und Schnee heimgesuchten Szenerie des Films sind die meisten Interaktionen seiner Protagonisten von ausnehmender Wärme gekennzeichnet.
Ob diese aufgesetzt ist oder nicht, ist im Grunde einerlei. Heizstrahler Nummer eins ist Bravo selbst, dem in dunklen Momenten zwar die eine oder andere Bosheit unterläuft, der aber sonst von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt ist, dessen Sexarbeit vor Zärtlichkeit strotzt, der stets mit Respekt vor den Menschen zu Werke geht – selbst wenn er sie hintergeht.
Es ist eine Paraderolle für Michael Thomas, der seit „Import Export“(2012) zu Seidls Stammensemble gehört. Bravo wurde „einzig und allein“für ihn erfunden, ihm von Seidl und seiner Drehbuch-Koautorin und Produzentin Veronika Franz „auf den Leib geschrieben“, wie es im Pressematerial heißt. Ebenso wie viele der famosen Schmachtfetzen, die er periodisch schmettern darf. Herwig „Fuzzman“Zamernik zeichnet für ihre Musik, Radiolegende Fritz Ostermayer für die Texte verantwortlich.
Auftakt für „Sparta“mit Georg Friedrich
So anrührend in ihrer angeknacksten Klarheit sind Künstlerporträt und Vater-TochterBeziehung, dass der konzeptuelle Überbau, der in manchen Szenen mitschwingt, etwas Ablenkendes hat. Die Grausamkeit, mit der Tessa ihren Vater konfrontiert, seine Replik („Man kann nicht einfach einen Menschen beschuldigen, ohne dass man weiß, was dahintersteckt!“), all das gemahnt an |MeToo-Diskurse. Anderes nimmt Bezug auf die Migrationskrisen der Gegenwart: Seidl war immer auch Welttheater.
Das wirkt hier zwar kraftvoll, doch strukturell uneben. Was auch dem Umstand geschuldet sein kann, dass „Rimini“, der teils schon 2018 gedreht wurde, bis vor Kurzem noch „Böse Spiele“hieß und im Schnitt zweigeteilt wurde. Das Komplementärstück „Sparta“, das nachkommen soll, klingt hier in Rahmensequenzen in Niederösterreich, (mit Georg Friedrich und dem verschiedenen Hans-Michael Rehberg als Bravos Bruder und dementem Vater) bereits an. Da spürt man auch die altbekannte Seidl’sche Dunkelheit stärker durch, die Gewissheit des Todes, die grundsätzliche Einsamkeit des Menschen. Gegen diese Unerquicklichkeiten singt Bravo an, zum Teil mit Erfolg: „Schirches Wetter“, meint er an einer Stelle, „aber im Herzen ist alles warm.“