Die Presse

Kommt der Krieg wieder nach Europa?

Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine. Will Präsident Putin nur spielen? Und was ist diesmal das Trojanisch­e Pferd?

- Norbert.mayer@diepresse.com

Das Gerede von einer drohenden Invasion der Ukraine hat sogar den Arbeitskre­is „Give Peace a Chance“im Gegengift ereilt. Er ist so gespalten, wie es nach Meinung mancher Analytiker all die direkt und indirekt beteiligte­n Mächte sind. In den USA wird eher geglaubt, Moskau lege es auf einen Krieg an. In der EU und paradoxerw­eise auch in Kiew meint man, dass es sich bloß um Drohgebärd­en handle, die die Nato spalten sollen. Wer weiß schon, was im Kopf eines Ex-KGB-Offiziers vorgeht?

Eines aber ist gewiss, wenn Panzer auffahren: Alle Alarmglock­en sollten schrillen. Solch irre Aktionen können Prozesse auslösen, die nur schwer reversibel sind. Franz Kafka hat das im Schlusssat­z seiner Erzählung „Ein Landarzt“so formuliert: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglock­e gefolgt – es ist niemals gutzumache­n.“Einmal im Juni 1914 mit dem Wagen in Sarajewo falsch abgebogen, schon bleibt Europa für Jahrzehnte nichts erspart.

Kann man aus solchen Verirrunge­n lernen? Die US-Historiker­in Barbara Tuchman zeigte sich in ihrem Bestseller „The March of Folly“– noch mitten im Kalten Krieg – skeptisch. Ihr Grundmodel­l ist ein episches aus alter Zeit: „Die Trojaner ziehen das hölzerne Pferd in die Stadt.“Sie glauben, dass es ein Ehrengesch­enk an ihre Götter sei, dass es Frieden bringe. Nur der Priester Laokoon und die Seherin Kassandra bemerken den listigen Betrug. Doch sie haben keine Chance.

Tuchman analysiert diese Torheit der Regierende­n mehrfach, anhand eindringli­cher Beispiele: Dekadente Päpste provoziere­n in der Renaissanc­e den Abfall der Protestant­en, die britische Weltmacht unterschät­zt den Unabhängig­keitswille­n der Kolonien in Amerika, die USA erleiden voll Hybris das Debakel in Vietnam.

Worin besteht heute die Überheblic­hkeit? Dass Panzerdivi­sionen keinen Frieden bringen, scheint evident. Dazu braucht man keine Sehergabe. Dass eine Ostsee-Pipeline das hölzerne Pferd unserer Tage sein könnte, bleibt für manche ein blinder Fleck.

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