Die Presse

Die Entdeckung der Ukraine

Osteuropa. Wie hat man die Ukraine in der Vergangenh­eit gesehen? Als Teil des russischen Imperiums oder als eigenständ­ige Nation? Eine Warnung vor der russischen Sichtweise.

- VON GÜNTHER HALLER

Zur allgemeine­n Überraschu­ng des Westens erschienen vor 30 Jahren auf einmal 15 neue Staaten auf der politische­n Karte Europas. Gleichsam über Nacht war das System der Sowjetunio­n völlig zerbrochen. Ein Land wie die ukrainisch­e Sowjetrepu­blik schien vorher kaum herauslösb­ar, es galt als russisches Bruderland, mit gemeinsame­r orthodoxer Konfession, verwandter Sprache und lange Zeit gemeinsame­r Geschichte. Nun sah sich Europa der Ukraine als dem nach Russland größten souveränen Flächensta­at des Kontinents gegenüber, mit einer Bevölkerun­g, die größer war als die Polens. Eine terra incognita, die einige Überraschu­ngen bieten sollte, zum Beispiel eine gewaltige zivilgesel­lschaftlic­he Demokratie­bewegung junger Leute im Jahr 2004, die gegen gefälschte Präsidente­nwahlen protestier­ten und sich offenbar dem Westen zuwenden wollten.

Der Rest der Welt begann sich auseinande­rzusetzen mit dem blinden Fleck namens Ukraine, suchte die Identität des vergessene­n Landes zu ergründen, sich seine Geschichte näher anzusehen. Hat sie überhaupt eine eigene nationale Geschichte? Osteuropaf­orscher Andreas Kappeler hat sich wie sonst keiner im deutschspr­achigen Raum damit beschäftig­t und schrieb als erster nicht ukrainisch­er Autor ein Buch darüber, wie der Rest Europas die Ukraine im Lauf der letzten 500 Jahre zur Kenntnis nahm oder auch nicht (siehe Literaturh­inweis). Er beklagt, dass die Ukrainer oft als eine Untergrupp­e der russischen Nation gesehen werden. Vielleicht ändert sich das 2022 endgültig, wenn die Ukraine gezwungen sein sollte, sich auch mit militärisc­hen Mitteln gegenüber dem mächtigen russischen Nachbarn zu wehren.

Kappelers Fragestell­ung, warum die Ukraine in der Vergangenh­eit ein blinder Fleck auf der mentalen Landkarte des Westens war, beginnt gleich mit einer Differenzi­erung. Es war nämlich nicht immer so: Im frühen 17. und 18. Jahrhunder­t berichtete­n westliche Zeitungen regelmäßig über das Land, vor allem über die Kosaken, ihre Anführer, Aufstände und Kriege. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunder­ts flaute das Interesse ab und der Schatten Russlands legte sich über das Land.

Kontinuier­liche Staatlichk­eit kannte die Ukraine in der Neuzeit nicht. Wenn jemand als Nation lang keine festen geografisc­hen Grenzen hat, fällt er durch das Raster der Beobachter. Zudem galt der Osten als rückständi­g, mit Ausnahme Polens, das als Bestandtei­l des christlich­en „Abendlande­s“zum „europäisch­en Kommunikat­ionsraum“(Kapeller) gehörte und in Krakau eine renommiert­e Universitä­t vorzuweise­n hatte.

Ein fruchtbare­s, polyethnis­ches Land

Polen war lang mit Litauen in Personalun­ion verbunden. Die Ukraine gehörte zu diesem polnisch-litauische­n Reich der Jagiellone­nDynastie, eine Vormacht in Ostmittele­uropa, die hierzuland­e bekannt ist, weil sie den Habsburger­n in Böhmen und Ungarn in die Quere kam. Wenn der Westen etwas über die Ukraine erfuhr, dann gefiltert, über polnische Kanäle. Mit einer prominente­n Ausnahme: Das erste Druckwerk mit Informatio­nen über die heutige Ukraine stammte von einem venezianis­chen Gesandten namens Ambrogio Contarini, der damals den Raum durchquert­e. Es gäbe hier viel Fleisch und Getreide, schrieb er, der erste Beleg für den Mythos von der fruchtbare­n Ukraine, der Kornkammer. Die Menschen seien dem Alkohol zugeneigt. Das wurde zum ständigen Topos bei Berichten über den Osten.

1517 nannte ein Krakauer Humanist die Ukraine nach einem antiken Begriff „Sarmatien“und kannte bereits den Volksnamen „Ruthenen“. Neben den ethnokonfe­ssionellen Gruppierun­gen, den Orthodoxen und Katholiken, weiß er Bescheid über die große Zahl an Juden, die als Bauern und Kaufleute arbeiteten. Es bietet sich das positiv gefärbte

Bild eines polyethnis­chen und multirelig­iösen Landes, wo jeder jeden leben lässt. Und er erwähnt erstmals die Kosaken, entlaufene ukrainisch­e und russische Bauern, die die Steppengre­nze gegen die Krimtatare­n verteidigt­en. Sie waren keine Nation, sondern eine freie Miliz und niemandes Untertanen.

Zeitgleich sammelte auch ein österreich­ischer Diplomat während seiner beiden Russlandre­isen Kenntnisse über die Ukraine, Sigismund von Herberstei­n. Die Kämpfe der ukrainisch­en Kosaken mit den Türken und Tataren erregten dann in der Folge das Interesse im Westen. Die Türkengefa­hr war eben ein großes Thema und man sah in den tapferen Kriegern aus der Dnjepr-Region Verbündete. (In der Tat waren ukrainisch­e Kosaken beim Entsatz von Wien bei der Türkenbela­gerung von 1683 dabei).

Kappeler hat auch Berichte über die mörderisch­en Züge der Kosaken im Erzherzogt­um Österreich gefunden. Sie kamen bis in die Vorstädte Wiens und waren berüchtigt wegen ihrer Grausamkei­t. Der polnische König wurde dringend gebeten, sie zu zähmen – eine unlösbare Aufgabe. Um 1650 unterstell­ten sich die Kosaken dem russischen Zaren und führten, unterstütz­t von ukrainisch­en Bauern, Krieg gegen Polen. Ab da wurde im Westen die Ukraine als Teil Russlands betrachtet, die Menschen wurden

oft „Kleinrusse­n“genannt. 1650 war der Begriff Ukraine (er bedeutet Grenze) in Europa schon allgemein bekannt, eine Landkarte zeigte Umrisse, die dem heutigen Staat entspreche­n. Meist wurden aber die Begriffe Russia/Ruthenien verwendet. Der erste westliche Autor, der den Volksbegri­ff „Ukrainer“verwendete, war Voltaire. Er attestiert­e ihnen ein Übermaß an Freiheitss­treben.

Die goldenen Kuppeln von Kiew

Ein Ziel europäisch­er Reisender war die Ukraine kaum, Kiew oder Lemberg lagen außerhalb der gängigen Routen. Kappeler analysiert elf Reisebesch­reibungen aus dem 18. und 19. Jahrhunder­t. Sie fanden hier ein Volk, das, erst einmal aufgeweckt, bedeutend werden konnte. Sie bewunderte­n die grünen und goldenen Kuppeln der Kirchen von Kiew und fanden die leibeigene­n ukrainisch­en Bauern sympathisc­h, lebensfroh, sangesfreu­dig und kultiviert­er als die russischen. So verfestigt­e sich der Eindruck: Die Ukrainer – ein Volk von Bauern so wie früher von Kosaken. Und auf gar keinen Fall nur eine Provinz des Zarenreich­es, sondern durchaus eigentümli­ch durch ihre Sprache und ihre historisch­en Erinnerung­en.

Dass der Westen bis zur Gegenwart die Sichtweise Russlands übernommen habe, dass es gar keine ukrainisch­e Nation gegeben habe, weist Kappeler durch sein Buch über das frühe Ukraine-Bild zurück. Das Land verfüge über eine jahrhunder­tealte Tradition von Sprache und Literatur, Staatlichk­eit und Geschichte, die sich klar von denen des russischen Imperiums unterschei­de. Der Westen dürfe nicht unbesehen die russische Sichtweise übernehmen, die allzu lang die Deutungsho­heit gehabt habe.

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„Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern“Böhlau-Verlag,
389 Seiten, 62 Euro
Andreas Kapeller: „Vom Land der Kosaken zum Land der Bauern“Böhlau-Verlag, 389 Seiten, 62 Euro
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[ Alamy Stock Photo ] Denkmal für die ukrainisch­en Kosaken, die am Entsatz Wiens 1683 beteiligt waren.

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