Diese Gewächse im Dschungel sind kein Kleinkram
Biologie. Im Amazonas messen Forschende, wie das Klima funktionierte, bevor der Mensch so großen Einfluss nahm. Nun entdeckten sie, dass Moose und Flechten dort über flüchtige Substanzen die Luftzusammensetzung verändern.
Als im Amazons-Regenwald entdeckt wurde, wie viele flüchtige Moleküle von Pflanzen und Tieren in der Luft sind, sagte Bettina Weber zu ihrem Team: „Dann lasst uns mal die Flechten und Moose messen!“Denn die Pflanzenwissenschaftlerin erforscht seit vielen Jahren die Gruppe der „Kryptogamen“, was übersetzt heißt: „die sich im Verborgenen fortpflanzen“. Sporenbildner kann man auch zu der Gruppe der Moose, Flechten, Farne, Bärlappe, Pilze, Algen und Bakterien sagen, also Organismen, die sich über Sporen vermehren und nicht über Samen.
Die Biologen wollten wissen, ob und wie Moose und Flechten involviert sind, wenn es um flüchtige organische Substanzen geht, die fachlich „Volatile Organic Compounds“(VOC) heißen und für uns Menschen typischerweise als Geruch wahrgenommen werden – weil sie eben „flüchtig“sind, also bei Raumtemperatur als Gas vorliegen und leicht verdunsten. Sowohl der Duft von frischem Regen als auch der von Tannen zu Weihnachten im Wohnzimmer oder von einem Moorboden beim Spaziergang – all das beruht auf einer speziellen Mischung von flüchtigen organischen Verbindungen in der Luft.
Klimatechnisch spielen diese Substanzen eine große Rolle: Einerseits verändern sie die Zusammensetzung der Atmosphäre, weil VOC sehr leicht mit anderen Substanzen reagieren. So tragen sie dazu bei, Schadstoffe in der Luft zu binden und die Atmosphäre zu reinigen, indem sie z. B. mit Ozon, das für unsere Gesundheit schädlich ist, reagieren. Andererseits sind VOC auch eine Basis für organische Aerosole in der Atmosphäre,
die den Strahlungshaushalt der Erde beeinflussen. Bisher sind viele Quellen von biogenen, also von Tieren, Pflanzen oder Bakterien produzierten VOC bekannt, aber die Gruppe der Moose und Flechten war noch eine ziemliche Black Box, bevor Bettina Weber und ihr Team vom Max-PlanckInstitut für Chemie in Mainz die Versuche starteten.
Seit 2019 ist Weber nun Arbeitsgruppenleiterin am Institut für Biologie der Uni Graz und führt diese Projekte weiter. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind aber auch in Brasilien zu Hause, denn dort befindet sich die eigentliche Stelle der Datensammlung: die deutsch-brasilianische Forschungsstation Atto (Amazon Tall Tower Observatory). Mitten im Regenwald, 150 Kilometer nördlich der Amazonas-Hauptstadt Manaus, stehen riesige Stahltürme, der höchste ist 325 Meter hoch. „Diese Türme wurden abseits von allem erbaut, um zu messen, wie das Klima funktioniert hat, bevor der Mensch so stark eingegriffen hat“, sagt Weber. „Dort werden Klimaprozesse untersucht, und in der Regenzeit klappt das jeweils sehr ungestört. In der Trockenzeit gelangen aber doch auch Verschmutzungen von weit her an die Messstationen.“
Flechten und Moose tragen weltweit etwa sieben Prozent zur Bindung von schädlichem Kohlendioxid bei.
Aufregende Reise ins Forschungscamp
Im Atto-Camp arbeiten vorwiegend Leute aus der Atmosphärenphysik, Meteorologie oder Chemie, doch Weber kam bald mit Forschungsideen für Biologinnen und Biologen dazu. Zweimal war sie schon vor Ort, die Anreise ist sehr lang und aufregend: Aus Manaus geht es stundenlang mit Van, Boot und Traktor in den Dschungel hinein, bis der hohe Atto-Turm sichtbar wird, der weit über die Baumkronen hinausragt. Im Camp schlafen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hütten mit Hängematten, ein Kochteam zaubert warme Mahlzeiten auf die Tische, und zahlreiche Labor-Container sind mit Hightech-Geräten ausgestattet.
Die Daten von den Messtürmen zeigten im Amazonas-Regenwald bereits sehr hohe Konzentrationen von VOC, die nicht aus menschlicher Aktivität stammen, sondern aus der Natur selbst. „Eine starke Quelle ist das Canopy-Level, also die Baumkronen“, sagt Weber. Die Bäume nutzen solche Substanzen zur Kommunikation untereinander, zum Schutz gegen Schädlinge und mehr. Auch bei Termitennestern fanden
die brasilianischen und deutschen Forscher hohe Werte an VOC, die an die Atmosphäre abgegeben werden. „Und wir haben jetzt kontrolliert, welche Rolle Flechten und Moose bei der VOC-Produktion spielen“, erklärt Weber. Ein virtueller Spaziergang durch den Regenwald zeigt, dass diese unscheinbaren Gewächse an fast jedem Zentimeter der Baumstämme und des Bodens gedeihen (Video von Achim Edtbauer auf https://news.uni-graz.at/de/detail/article/ gross-fuers-klima). „Bis zu drei Viertel der Baumstämme sind davon bedeckt. Hochrechnungen zeigen, dass Flechten und Moose kein Kleinkram sind, sondern weltweit etwa sieben Prozent zur Bindung von schädlichem Kohlendioxid beitragen – und bei der für die Düngung wichtigen Stickstoff-Fixierung sogar fast 50 Prozent“, sagt Weber.
Ihr Team baute im Regenwald-Labor neue Messkammern, in denen es die VOCAbgabe der Flechten und Moose detailliert erfasste. „Das könnten wir nicht hier in Europa messen, weil Brasilien erstens bei der Ausfuhr von biologischem Material sehr streng ist. Und zweitens überleben die an den Regenwald angepassten Organismen keine langen Reisen. Direkt dort an der AttoStation klappten die Versuche sehr gut“, so Weber. Die Ergebnisse überraschten selbst die erfahrenen Kryptogamen-Forscher: Die Menge an bestimmten VOC, die aus Moosen und Flechten in die Atmosphäre gehen, ist fast gleich groß wie jene aus dem gesamten Baumkronen-Level des Regenwaldes.
Als Hauptbestandteil identifizierte das Team um Achim Edtbauer, Jonathan Williams und Bettina Weber Verbindungen vom Typ Sesquiterpenoid (erschienen in Nature Communications Earth & Environment). Diese können schnell mit Ozon reagieren und sauerstoffhaltige Verbindungen bilden. Auch zur Aerosol- und Partikelbildung tragen sie bei, was wiederum Einfluss auf Nebel und Wolken hat. „Was wir noch nicht wissen, ist, ob es die Flechten und Moose selbst sind, die diese VOC abgeben, oder die Gefolgschaft an Bakterien und Pilzen, die in so einem Geflecht leben“, sagt Weber. Während der Pandemie wurden neue Exkursionen und Versuche gebremst, aber sie möchte nun genauer untersuchen, wie die VOCProduktion von Wassergehalt und Lichtintensität abhängt. „Wir haben an einem Baum in der Nähe der Atto-Türme bereits eine gute Mikroklima-Station, die seit 2016 durchgehend Daten erhebt“, erklärt Weber. Die Sensoren stecken in den Moospolstern auf verschiedenen Höhen am Baumstamm und melden alle zehn Minuten die Temperatur, Lichtintensität und Feuchtigkeit: Wann sind die Moose und Flechten aktiv, und wann fallen sie in den Ruhemodus, der für diese Gewächse bei Trockenheit typisch ist? „Zum Waldboden kommt wirklich fast kein Licht hin, dafür bleibt ein Moos dort unten nach einem Regenguss wochenlang feucht und aktiv.“Oben in den Baumkronen schwanken Temperatur und Licht sehr stark mit dem Tagesrhythmus und damit auch die Aktivität der Moose.
Neben den VOC sind wie gesagt Partikel in der Luft wichtig für das Klimageschehen. Auch dafür etablierte das Team ein eigenes
KLIMA IM WANDEL
Messsystem im Regenwald, in dem aber weniger Flechten und Moose wachsen, sondern Pilze: „Da wollen wir untersuchen, wie wichtig Pilzsporen für Aerosole sind, die die Wolkenbildung beeinflussen. Denn die Messungen an den Atto-Türmen finden zeitweise sehr hohe Partikelkonzentrationen, und wir können nun im Freiland und im Labor den Anteil der Pilze daran bestimmen.“
Biologische Krusten fixieren Wüsten
Die Beschäftigung mit den Tropen ist für Weber stets spannend, obwohl sie ihren Hauptfokus bisher auf die Wüstengebiete der Erde legte. Bei jahrelangen Forschungen in Südafrika und Namibia zeigte sie, wie wichtig Moose und Flechten in Wüsten sind: „Sie bilden biologische Bodenkrusten, die weltweit etwa zwölf Prozent der Erdoberfläche bedecken, also 18 Millionen km2 oder rund ein Drittel der Oberfläche aller Trockengebiete“, sagt Weber. Die harten Krusten aus Flechten, Moosen, Mikropilzen und Bakterien verhindern Staubstürme, weil sie den Sand stabilisieren – und Webers Team erforscht, wie man den Boden fruchtbar nutzen kann, ohne dass „einem der Sand um die Ohren fliegt“.