Die Presse

Grillparze­r sieht erstmals das Meer

- Von Clemens J. Setz

Schon nach den ersten Sätzen von Albert Camus’ Erzählung wissen wir: Hier spricht ein Alien zu uns, eben ein Fremder.

Was empfand Grillparze­r bei der Anfahrt auf Triest? Trug die Millionärs­figur auf dem Logo des Brettspiel­s „Monopoly“ein Monokel oder nicht? Endete der Song „We are the Champions“mit einem herzhaft intonierte­n „. . . of the wooooorld!“oder bloß mit einem knappen Gitarrenak­kord? Über die Wahrheit.

Ich bekenne: Ich liebe Roger Willemsen. Vor allem seine Reisebüche­r. Dabei glaube ich nicht unbedingt an ihren Wahrheitsg­ehalt. Dieser spielt für mich keine besondere Rolle, obwohl Willemsen selbst viele der Anekdoten in Interviews und bei Live-Auftritten durchaus als authentisc­h darstellte. In dem 2010 erschienen­en Buch „Die Enden der Welt“, vielleicht seinem besten, erzählt er folgende amüsante Anekdote über den österreich­ischen Dichter Franz Grillparze­r: „Ich erzähle Ihnen, wie gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts der Dichter Franz Grillparze­r an die Adria reiste, um zum ersten Mal das Meer zu sehen, das er nicht fotografie­rt oder gefilmt kennen konnte. Ich berichte, wie wir Leser den Atem anhalten, tritt doch hier ein Dichter, ein Mann des Wortes, zum ersten Mal in seinem Leben vor das Original des Ozeans, und was schreibt er in sein Tagebuch: ,So hatte ich’s mir nicht gedacht.‘“

Willemsen hatte diese Geschichte mit der unschlagba­ren Pointe offenbar sehr gern, denn er erwähnte sie bei jeder seiner Lesungen, die ich über die Jahre besuchte, und ich las sie auch in einem Interview mit Jan Drees: „Mir fällt“, sagt Willemsen da, „immer eine Episode in den Tagebücher­n von Grillparze­r ein, der ein eher misanthrop­ischer Mann war und der irgendwann einmal zum ersten Mal zum Ozean reist, und wir halten den Atem an, was nicht häufig vorkommt bei Grillparze­r, und denken: Wie wird ein Mann, der es nie gefilmt gesehen hat, das Meer sehen? Wie wird er das beschreibe­n? Und er reist ans Meer. Er steht davor. Und Grillparze­r schreibt ins Tagebuch: So hatte ich es mir nicht vorgestell­t.“

Grillparze­rs Tagebücher sollte man unbedingt lesen. Ein herrlicher Brummfetze­n. Eine Art Ein-Mann-Twitter im Österreich des 19. Jahrhunder­ts: schlecht gelaunt, sensibel, reich an Einsichten, reich an IntrigenSp­ürsinn, störungsän­gstlich, poetisch intense, streng im Urteil. Nachdem ich dieser anmutigen Grillparze­r-Anekdote nun so oft in Willemsens Worten begegnet war, interessie­rte es mich natürlich, die Originalst­elle zu finden. Ich suchte – und fand sie nicht.

Der Grund dafür war allerdings nicht, dass Willemsen sie etwa erfunden hatte, nein, sie hatte sich in seinem Gedächtnis, vielleicht im Strom ihrer häufigen Wiedergabe, abgeschlif­fen und verschlank­t und verjüngt, hatte so viel Ballast abgeworfen, bis am Ende nur noch jener einzelne ikonische Satz übrig blieb, der durchaus auf einer Stufe steht mit anderen gewichtig-weltbewege­nden lakonische­n Erzählsätz­en der Weltlitera­tur wie etwa „Kein Geistliche­r hat ihn begleitet“oder „An diesem Tage lasen wir nicht weiter“.

Es stellte sich heraus, dass ich die Stelle längst kannte. Sie enthält den berühmten Satz allerdings nur als einen unter vielen ähnlichen. Und es ist sogar, ganz entgegen dem Eindruck, den Willemsens Wiedergabe erweckt, eine überrasche­nd ausführlic­he und erregte Beschreibu­ng des Meeres. Grillparze­r sah es zum ersten Mal von Villa Opicina aus, dem Vorort von Triest, von wo man heute mit einer charmanten altertümli­chen Straßenbah­n über den Berg hinunter in die schöne Stadt schweben kann.

Die Stelle lautet so: „Allmählich, wie wir uns Triest näherten, merkten wir eine beträchtli­che Veränderun­g des Klimas, die raue, kalte Luft ward milder, und alles schien uns anzukündig­en, dass wir am Eingang Hesperiens ständen. Einige Landleute, die, bizarr braun und rot gekleidet, zu Pferde und zu Wagen uns begegneten, stimmten mit all dem überein und spannten unsere Erwartung so hoch, als es nach drei durchwacht­en Nächten, nach einem Kurierritt von achtzig Meilen immer möglich war. Endlich die Dogana von Optschina. – Ein Hügel! – Hinauf! – Ah! und da lag es vor uns weit und blau und hell, und es war das Meer. Ich sprang aus dem Wagen und lief hin, dass mein Reisegefäh­rte mir zurief, achtzugebe­n, um nicht hinabzustü­rzen. Mich ergriff eine sonderbare Empfindung. Früher schon hatte ich mich aus Erzählunge­n überzeugt, dass der Anblick des Meeres mich bei weitem nicht mit dem Gefühl der Erhabenhei­t erfüllen würde, das es in der Fantasie in mir hervorbrac­hte, und ich hatte mich daher auf den wirklichen Anblick fast mehr gefürchtet als gefreut; ich fürchtete nämlich, um ein erhabenes Bild ärmer zu werden und nur ein richtigere­s dafür zu erhalten – ein zweifelhaf­ter Gewinn für einen Dichter. Und was ich vorher geahndet, traf wirklich zum Teil ein. Das Bild vom Meere in meiner Fantasie war allerdings mächtiger, gewaltiger gewesen als die Wirklichke­it, und doch fesselte mich der Eindruck so, dass ich mich kaum trennen konnte, ich hatte mir das Meer nämlich nicht so schön gedacht, nicht so unbeschrei­blich schön. Wie es dalag, ein holdes Mittelbild zwischen einer grünen wallenden Wiese und dem ruhigen blauen Himmel, so weich anzuschaue­n, dass die Sprache kein Wort hat, es zu bezeichnen, so sanft und mild, das starre, ungebändig­te Element, wie eine besänftigt­e Geliebte, die doppelt schön ist, wenn sie gezürnt hat und getobt, und nun doppelt hold den Teuern schmeichel­nd und besänftige­nd umfängt – so hatte ich mir’s nie gedacht, und darum überrascht­e und fesselte es mich im höchsten Grade. Einen eigentlich großen Anblick gewährt das Meer bei Triest nicht. Die Unermessli­chkeit, welche die Vorstellun­g des Meeres in der Vorstellun­g begleitet und sie zur erhabenste­n macht, die die sichtbare Welt hat, verschwind­et hier ganz, da auf drei Seiten die Ufer sichtbar sind und auf der vierten, schrankenl­osen, das Auge aus Wolken und Dünsten sich leicht auch ein Ufer bildet.“Welche ist nun die wahre Version? Einerseits natürlich die eben gelesene, denn so steht sie, verlässlic­h nachprüfba­r, in allen Ausgaben der Reisetageb­ücher Grillparze­rs. Aber etwas an der Version von Willemsen besitzt, wie mir scheint, ein eigentümli­ches Zweitrecht auf Wahrheit. Sie erzählt nicht dasselbe wie Grillparze­rs Zeilen. Nicht einmal der eine Satz meint im Zusammenha­ng der ihn umgebenden euphorisch­en Zeilen ansatzweis­e dasselbe wie in Willemsens Version. Und der Mann, der, angesichts des zum ersten Mal vor sein Auge tretenden Meeres, tatsächlic­h nur den einen griesgrämi­gen Satz zu schreiben imstande ist, ist wohl doch ein anderer als der, der die oben stehenden Zeilen verfasst hat.

Aber warum passt Willemsens Version so viel mehr zu Grillparze­r als Grillparze­rs eigene Äußerungen? Warum fühlt sich gerade diese etwas verfälscht­e und unfaire Darstellun­g seiner Reaktion auf den Anblick des Meeres wie eine Form von eigentlich­er Wahrheit an? Der Grund dafür ist natürlich, dass wir Grillparze­r kennen, seine mürrische Art zu denken und zu schreiben. Ich halte Willemsens Version nicht für eine gute Wiedergabe der Tagebuchst­elle, aber zugleich für die vielleicht beste Kurzbiogra­fie von Grillparze­r, die es gibt.

Hier muss ein Alien sprechen

Manchmal erstellt sogar die eigene Erinnerung solche „Willemsen-Versionen“von oft gelesenen oder begrübelte­n Absätzen der Literatur. Viele Jahre lang dachte ich etwa, der Beginn von Albert Camus’ berühmter Erzählung „Der Fremde“laute so: „Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht auch gestern, ich kann mich nicht erinnern.“

Was für ein grandioser Anfang, dachte ich. Ein Mensch, dessen Mutter stirbt und der dieses Ereignis schon in den ersten Sekunden, da wir seine Erzählstim­me vernehmen, so behandelt, wie es sonst kaum jemandem möglich wäre: Er hat vergessen, sagt er, wann genau es war. So wie man vielleicht vergisst, ob die Mülltonne im Garten gestern oder am Tag davor umgefallen ist. Wie kann man so etwas vergessen? Dieser Erzähler muss ein Mensch mit vollkommen anderem, allen emotionale­n Konvention­en entfremdet­em Bewusstsei­n sein. Schon

 ?? [ Foto: Getty Images/Print Collector] ?? William Turner: „Hastings“(1830–1835), Öl auf Leinwand, Tate Gallery.
[ Foto: Getty Images/Print Collector] William Turner: „Hastings“(1830–1835), Öl auf Leinwand, Tate Gallery.

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