Clemens Setz: Grillparzer sieht erstmals das Meer
nach den ersten Sätzen wissen wir: Hier spricht ein Alien zu uns, eben: ein Fremder. Aber dummerweise lautet der erste Satz von „Der Fremde“gar nicht so. Sondern: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: ,Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.‘ Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.“Es lag also gar nicht an ihm, dass er nicht weiß, wann es war! Das Telegramm des Heims enthielt einfach keine klare Zeitangabe! Nicht er, sondern das Heim ist das emotionslose, tendenziell außerirdische Element in diesen Anfangszeilen.
Und doch ist meine falsche Erinnerung an den Anfang des Romans, ganz wie Willemsens Version, nicht ganz falsch. Nein, es ist sogar so etwas wie Wahrheit in ihr, denn die im Verlauf der Erzählung so intensiv dargestellte existenzielle Entfremdung der Hauptfigur Meursault, der auf dem Begräbnis seiner Mutter keine nennenswerten Emotionen zeigt und später auf einem Strand einen Araber aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen („Es war heiß“) erschießt, wirkt nicht nur voraus, in Erzählrichtung, sondern eben auch retrograd, auf alles, was davor war. Meine Kenntnis der Figur, ihre Seele sozusagen, verwandelte meine Erinnerung an die Anfangszeilen in etwas, das wahrhaftiger und besser zu jener Seele passte.
Und angenommen, meine falsch erinnerte Version wäre tatsächlich der Anfang des Romans gewesen. Würde sie „besser“funktionieren? Nein. Denn in welche Richtung hätte Camus die Erzählung von da ab noch lenken können? Der Abstand zwischen einem Leser und dem Helden wäre schon in den ersten beiden Sätzen zu groß gewesen. Man könnte ihm beim besten Willen nicht folgen – und alles, was danach kommen könnte, wäre eine bestenfalls beeindruckende Stilübung in Fremdheit. Echtes Erzählen verlangt nach der Möglichkeit der Steigerung.
Später passierte mir eine noch viel kuriosere Fehlleistung. 2017 oder so las ich ein ungeheuer spannendes Buch über die Ketzerprozesse von Montaillou im 14. Jahrhundert. Dann vergingen ein, zwei Jahre, und ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder an eine bestimmte Anekdote aus dem Buch dachte. Die Geschichte erschien mir in all ihren Details sehr kraftvoll und sinnbildhaft. Also fertigte ich ein kleines Fundstück-Prosagedicht aus ihr: „AVANTGARDE: Anfang des 14. Jahrhunderts stand das gesamte südfranzösische Dorf Montaillou vor der Inquisition. In den Gerichtsprotokollen findet sich die Erwähnung einer jungen Frau, die namenlos bleibt. Sie wurde beschuldigt, den christlichen Glauben abgelegt zu haben. Man fragte sie, welcher Mann ihr diese ketzerischen Ansichten vermittelt habe. Die Frau antwortete, das habe ihr niemand beibringen müssen, sie sei ganz allein darauf gekommen, dass der christliche Gott nicht existieren könne, durch eigene Überlegungen, während der Hausarbeit.“
So hatte ich die kleine Szene im Kopf. Durch eigene Überlegungen während der Hausarbeit. Ziemlich genau dieser Satz, vielleicht ein wenig anders formuliert. Mit Sicherheit war da jedenfalls das Wort Hausarbeit gestanden. Doch hier mein Problem: Ich schwöre, ich habe alles abgesucht, aber es gibt diese Anekdote in dem Buch nicht. Ich bin wirklich jede Seite Zeile für Zeile durchgegangen. Da ist nichts dergleichen. Ich muss die kleine Szene entweder geträumt oder mir sonst irgendwie eingebildet oder am Ende ganz woanders gelesen und sie dann in meiner Erinnerung mit diesem Kontext vermengt haben.
Was mag die ursprüngliche Szene gewesen sein? Ich weiß es nicht. Hätte ich nie nach der Originalquelle gesucht, würde ich sie heute wohl immer noch als aussagekräftige, wahrhaftige Parabel über die historischen Spielarten der Unterdrückung von Frauen betrachten. Aber jetzt? Was ist sie jetzt, wo wir ihre unklaren Entstehungsbedingungen kennen? Wobei ich an dieser Stelle hinzufügen muss: Ich finde es durchaus ehrenwert und korrekt, Zitate zu erfinden. Ich mache das öfter. Aber hier in dem Montaillou-Beispiel habe ich es nicht beabsichtigt. Ich hatte tatsächlich die deutliche Erinnerung, diese Anekdote in dem Buch über die gespenstischen Schauprozesse gelesen zu haben. Sie stand, sagt mir mein Gehirn, rechts unten auf einer Seite.
Nun hat wahrscheinlich jeder Mensch solche eigenartigen Erinnerungen, die sich absolut wahr anfühlen, aber bei näherer Betrachtung so eigentlich nicht stimmen können. Zum Beispiel habe ich die Erinnerung, dass ein Mädchen in meiner Volksschulklasse, als man es aus irgendeinem Grund um seine religiöse Orientierung fragte, antwortete, sie sei „ohne Befund“, obwohl sie natürlich „ohne Bekenntnis“hatte sagen wollen. So ist das abgespeichert in meinem Kopf, aber ich muss zugeben, es wirkt irgendwie zu glatt, zu pointiert, zu bequem, zu hingebogen. Ich misstraue dieser Erinnerung.
Noch viel komplizierter wird es, wenn solche sich felsenfest wahr anfühlenden Phantomerinnerungen von mehreren, ja vielleicht sogar von zahlreichen Menschen geteilt werden. Man nennt dieses Phänomen den Mandela-Effekt. Der Name leitet sich aus der Tatsache her, dass auffallend viele Leute sich deutlich an Nelson Mandelas Beerdigung (nach einem angeblich noch während seiner Inhaftierung erfolgten Tod) irgendwann in den 1980er-Jahren erinnern können. Sie beschreiben den Begräbniszug, die Übertragung im Fernsehen und finden im Internet andere, die sich an genau dieselben Details erinnern.
Die Sammlung und Untersuchung solcher Mandela-Effekte sind inzwischen ein eigenes Gemeinschaftsspiel. Häufig beziehen sich diese „Das sah doch anders aus!“Phantomerinnerungen auf Logos und Designdetails bestimmter Nahrungs- und Haushaltsartikel, wie etwa Müsli- und Chipspackungen, Erdnussbutter-Etiketten usw., eben lauter Dinge, die man als ein in einer bestimmten Dekade aufwachsendes Kind häufig vor Augen hatte. Hieß das crunchy Zeug, das man immer zum Frühstück aß, FRUIT LOOPS oder FROOT LOOPS? Trug die rennende Millionärsfigur auf dem Logo des Brettspiels „Monopoly“ein Monokel oder nicht? Endete der Song „We are the Champions“von Queen mit einem vom göttlichen Freddie Mercury herzhaft intonierten „. . . of the wooooorld!“oder bloß mit einem knappen Gitarrenakkord?
Man nennt das den Mandela-Effekt. Weil auffallend viele Leute sich an Nelson Mandelas Beerdigung in den 1980er-Jahren erinnern.
Sie wähnen sich in einer Parallelwelt
Über diesen Fragen verlieren einige Menschen im Internet den Verstand. Diejenigen, die sich deutlich an etwas erinnern können, wofür sie aber in der Wirklichkeit und der historischen Dokumentation keinerlei Beweise finden können, wähnen sich in eine Parallelwelt geraten. Wie ernst- oder scherzhaft diese „Lösung“des Problems verstanden wird, ist nicht immer ersichtlich. Einige meinen es vollkommen ernst und beschuldigen den Teilchenbeschleuniger des CERN, sie durch riskante Experimente aus ihrem Heimatuniversum gestoßen zu haben.
Merkwürdigerweise teile ich selbst, der ich doch eigentlich anfällig für derlei Dinge sein müsste, nicht einen einzigen dieser populären Mandela-Effekte. Ich erinnere mich an all diese Dinge genau so, wie sie auch heute aussehen: Die Monopolyfigur trug nie ein Monokel, das grässliche Frühstückszeug schrieb sich immer FRUIT und nicht FROOT, und „We are the Champions“endet nicht mit „. . . of the woooorld!“, sondern mit einem Gitarrenakkord. Leider bin ich nie in ein Paralleluniversum gekippt, in dem eine andere kollektiv verwaltete Wahrheit herrscht.