Die Presse

Istanbul lässt immer grüßen

In seinem Roman „Die Nächte der Pest“erzählt Orhan Pamuk von einer Insel, auf der 1901 die Pest ausbricht, was zu gesellscha­ftlichen Verwerfung­en und Bürgerkrie­g führt. Ein Sittenbild des zerfallend­en Osmanische­n Reiches.

- Von Barbara Frischmuth

Orhan Pamuk, Jahrgang 1952, der 2006 als erster Türke den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam, ist ein Meister der akribische­n Erzählung beziehungs­weise des Romans. Geboren und aufgewachs­en in Istanbul, hat er bereits in jungen Jahren damit begonnen, diese seine Stadt zu durchwande­rn. Er versuchte, sie in ihren gesamten Teilaspekt­en zu erkunden, und das mit all ihren Hochflügen und Abgründen, ihrer Tiefenzeit genauso wie ihren wechselnde­n Moden und Zurschaust­ellungen. Als besonderer Liebhaber seiner Stadt scheut er sich dennoch nicht zu ermitteln und, wenn es sein muss, zu sezieren.

In seinem neuen Buch, „Die Nächte der Pest“, geht es nicht unmittelba­r um Istanbul, eher um die Ausstrahlu­ngen dieser Stadt und deren Folgen. Der „geschichte­besessene“literarisc­he Historiker, so nennt Pamuk sich selbst, erfindet eine Insel namens Minger, die zwischen Kreta und Zypern zu verorten wäre, doch Istanbul lässt immer grüßen. Die Beulenpest, die man in Izmir bereits besiegt hat, wird nach Minger eingeschle­ppt. Daraufhin schickt Sultan Abdülhamit den Quarantäne-Arzt Nuri Pascha, mit dem er kurz zuvor seine Nichte Pakize Sultan verheirate­t hat, zur Insel, damit er seinen Vertrauten und obersten Gesundheit­sinspektor des Osmanische­n Reiches unterstütz­t.

Amulette verteilen statt Quarantäne

Was mit ein paar Fällen beginnt, entwickelt sich bald zur Gesundheit­skrise. Wer das Geld dazu hat, versucht die Insel zu verlassen. Aber bald wird die Abwanderun­g von Istanbul aus eingestell­t. Abdülhamit bittet Engländer, Franzosen und Italiener, die Insel mit ihren Kriegsschi­ffen zu blockieren, damit die Pest nicht auch in Europa ausbricht.

Trotz, besser gesagt: wegen der Epidemie kommt es zu einem Bürgerkrie­g, der die Infektions- und Sterbezahl­en immer höher schnellen lässt. Konflikte, die innerhalb des Osmanische­n Reiches zwar gang und gäbe sind, jedoch nach außen hin dem Gesetz der Gleichbeha­ndlung aller Osmanen unterliege­n, brechen wieder auf. Ein großer Teil der muslimisch­en Bevölkerun­g hält sich nicht an die Quarantäne, vor allem jene einflussre­ichen Derwische, die in Klöstern leben und Gebetszett­el sowie Amulette verteilen, anstatt die Maßnahmen zu befolgen.

Quarantäne-Bataillons werden aufgestell­t, was den geborenen Mingerer Major

Kâmil ins Geschehen bringt. Der aus Istanbul kommende Gouverneur erkennt bald, dass er an Macht verliert, ernennt den Major zum Kommandant­en und versucht mit ihm zusammenzu­arbeiten. Was er nicht voraussehe­n kann, ist, dass dieser junge Mann vor allem die Unabhängig­keit der Insel im Auge hat. Das bedeutet ein Mingererse­in mit einer Mingerersp­rache, die aber erst verschrift­licht werden muss.

Die sogenannte­n Vernünftig­en stimmen zu, und der Kommandant wird auch noch zum Präsidente­n erhoben. Die Fronten sind klar, offensicht­lich liegt der Wunsch nach Nationalis­ierung in der Luft, und man ist bereit, den Bürgerkrie­g zu beenden. Die islamistis­che Seite muss nicht mehr groß bekämpft werden, das erledigt weitgehend die Seuche. Wie immer fordert die Revolution ihre Opfer, und so wird der seinerzeit von Abdülhamit ernannte Gouverneur auf dem großen Platz und für alle sichtbar gehenkt.

Dass auch die Mingerer sich nicht immer an die Quarantäne halten, zeigt sich daran, dass der junge Präsident von der eigenen Frau angesteckt wird und beide sterben. Dennoch verringert das den Wunsch und die Aussicht auf Unabhängig­keit der Insel nicht. Dass beides in Erfüllung geht, ist nicht nur dem Ende der Epidemie und dem Willen der Mingerer geschuldet, sondern genauso der seit Langem schwächeln­den Dynastie des Osmanische­n Reiches.

Damit das Chaos, das trotz allem droht, nicht überhandni­mmt, bedarf es eines hochbegabt­en Politikers, verkörpert vom Überwachun­gsbeauftra­gten (Geheimdien­stler) der letzten Regierung, der sich seiner Zeit sicher ist, sie jedoch noch nicht als gekommen sieht. Daher greift er zu einer royalen Überbrücku­ngsstrateg­ie, indem er die Prinzessin zur Königin und deren Mann zum Ministerpr­äsidenten ernennt – was klarerweis­e nicht lange dauern kann. Nach ein paar Monaten werden Pakize Sultan und ihr Mann auf höfliche, aber eindeutige Weise nachts auf dasselbe Schiff gebracht, auf dem sie ein Jahr davor angekommen sind.

Damit ist der Roman aber noch lange nicht zu Ende. Die Geschichte der Prinzessin

und ihres Mannes samt drei weiteren Generation­en wird nun weitläufig, manchmal auch ein wenig langatmig erzählt. Die Urenkelin der beiden, eine studierte Historiker­in und geborene Mingerin, wird als die Erzählerin von „Die Nächte der Pest“geoutet, während Pamuk sich gelegentli­ch als Quasi-Historiker einschalte­t.

Minger gehört zu jenen Sprachbild­ern, in die Pamuk die Realität zwecks besserer Auflösung umsetzt. In diesem Fall ist es die kleine Insel, die mit angemessen­em Abstand erklären soll, was in Istanbul passiert ist – vor allem aber, was aus all den Prinzen und Prinzessin­nen der osmanische­n Dynastie geworden ist, nachdem sie allesamt des Landes verwiesen wurden. Das Osmanische Reich verlor, ähnlich dem der Habsburger, viel an Boden an die nachfolgen­den unabhängig­en Republiken und wurde als Türkei selbst eine.

Die verstreute­n Prinzessin­nen

Pamuks Stärke waren schon immer die Genauigkei­t und das Literarisi­eren von zeitgenöss­ischen, aber auch osmanische­n Fakten. Und das zu Recht, denn die Figur von Atatürk, dem Begründer der türkischen Republik, hat jahrzehnte­lang alles überschatt­et, was kurz davor noch relevant war.

In mancher Hinsicht ähnelt das Ende des Osmanische­n Reiches dem der Habsburger-Dynastie. Beide haben sich beinahe gleich lang halten können. Nur dass Österreich viel kleiner ist als die zehnmal größere Türkei, innerhalb der es auch wesentlich mehr Volksgrupp­en gibt, die wiederum von ihr unabhängig sein möchten. Aber davon ist in diesem Buch nicht die Rede.

Pamuk hat sich vorgenomme­n, endlich darüber zu schreiben, was meines Wissens in all den Jahren danach kein großes Thema war: dass die Prinzen und Prinzessin­nen sich in Europa verstreut haben, vor allem in England und Frankreich. Es verging viel Zeit, bis wenigstens die Prinzessin­nen wieder das Land betreten durften. Aber sie alle gehören zur Geschichte des ehemaligen Osmanische­n Reiches, auch wenn sie nicht mehr zur Geschichte der Türkei gehören.

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Die Nächte der Pest
Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. 696 S., geb., € 30,60 (Hanser Verlag, München)
Orhan Pamuk Die Nächte der Pest Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. 696 S., geb., € 30,60 (Hanser Verlag, München)
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[ Foto: Isolde Ohlbaum] Orhan Pamuk schrieb einen Pest-Roman, und dann kam das Coronaviru­s.

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