Grün, damit es weiß bleibt
Schweiz. Umweltbewusst Ski fahren – geht das? Wenige Skigebiete weltweit zeigen dafür mehr Einsatz als Flims/Laax/Falera in Graubünden. „Green-Style“wird hier zum Lifestyle.
Das Beweisstück liegt vor der Haustür. Oder besser: oben auf dem Dach. Am Vorabgletscher hoch über dem Graubündner Skiort Laax lassen sich die Auswirkungen der Klimaerwärmung schön nachvollziehen, so dekadent das klingen mag. Rasant ist der Eispanzer auf dem 3028 Meter hohen Vorab zurückgegangen. Noch vor ein paar Jahrzehnten spannte sich der Gletscher von 2700 bis auf 3018 Meter hinauf und hatte Sommerskibetrieb. Jetzt liegt da blanker Schotter, wie fast überall in den bald aufgetauten Alpen.
Die Skifahrer, die derzeit auf hoher Schneedecke herumdüsen, werden von dem Drama unter ihnen wenig merken. Wenn nicht gerade viel Wind weht, laufen die zwei flachen Schlepplifte am Gletscher. Weil es dort so gemach dahingeht, kann man entspannt über das prächtige Ensemble aus Graubündnern und Glarner Gipfeln screenen – und das Gesehene vom Lift aus gleich posten. WLAN gibt’s im Skigebiet der „Weissen Arena“, sprich Flims, Laax und Falera, überall und überhaupt seit Jahren. Wie vieles, das in der Schweizer Skiwelt, wenn nicht im gesamten touristischen Alpenraum, hier zuerst da war. Durch seine Pionierstellung versteht man sich auf smarte Vermittlung beim Gast, vom Marketing bis zur App. Auch von so sperrigen Themen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, Abfallmanagement und so weiter.
Green-Style, in der Tat
Seit 2010 arbeitet die „Weisse Arena Gruppe“– Betreiber dieses riesigen Skigebiets – am Ziel, die „erste selbstversorgende CO2-neutrale Alpendestination“zu werden. Der komplette Energiebedarf soll regional und klimafreundlich gestillt werden. Im Gegensatz zu anderen Skiresorts auf diesem Planeten, die meinen, das Klimathema vor allem durch Emissions-Ablasshandel regeln zu können, wird hier vieles tatsächlich umgesetzt.
Ein paar der Maßnahmen: Die Fassaden der Liftstationen tragen Solarpaneele (sieht noch dazu gut aus). Der meiste Strom im Skiresort, zu dem nebst Liften auch Berggastronomie, Hotels und andere touristische Dienstleister gehören, kommt aus Wasserkraft in der Nähe. Ölheizungen wurden durch Anlagen für Pellets oder Wärmepumpen ersetzt. Recycelt wird viel – Veranstaltungs-Banner etwa werden zu Taschen verarbeitet. Wintersportler sollen Wasser direkt vom Brunnen trinken, nicht Plastikflaschen ordern. Damit nicht so viele Essensreste entsorgt werden müssen, berechnet automatisches Foodwaste-Management
den wahren Bedarf vorab. Wird gebaut, dann mit regionalem Holz. So auch in den nächsten Jahren an der großen Station am Crap Sogn Gion, dem Berg, von dem sich viele Lifte aus verteilen.
Aber wie geht sich dieser „Green-Style“etwa mit der Produktion von technischem Schnee aus? Die Crux ist ja, dass selbst in einem Skigebiet, das zu 70 Prozent auf 2000 bis 3000 Metern liegt, auf den Naturschnee immer weniger Verlass ist. Die Schneeperioden werden kürzer, die Schneefallgrenze wandert nach oben, die Saison beginnt später. Technischer Schnee im notwendigen Ausmaß wird so verschoben, dass die (sparsam) mit Diesel betriebenen Pistengeräte keine unnötigen Kilometer machen. Eine Software im Pistenbully misst die Schneehöhe in
3-D. Punktgenau wissen die Fahrer dadurch, welche Mulde aufgefüllt und welcher Buckel wegfrisiert werden muss.
Wie lang geht das noch? Bis 2056 wird der Gletscher Geschichte sein, hat die ETH Zürich errechnet. Mit dem „Last Day Pass“, dem Ticket für den Tag, der nie kommen soll, versucht Laax den Zeitpunkt hinauszuschieben: Der Erlös daraus geht zu hundert Prozent in eine Stiftung, die sich um den Schutz der hochalpinen Landschaft kümmert und unter anderem oben viele Bäume pflanzt.
Weltgrößte Halfpipe
Reto Gurtner, der Initiator hinter vielem, wofür die Marke Laax steht, hatte dereinst, als er Skilifte von seinem Vater erbte, noch eine andere Vision. Begeistert von der Surferszene in Kalifornien, zeigte sich der Gründer der „Weissen Arena Gruppe“offen für Trendsportarten und einen lässigen Lifestyle. Laax wurde schnell der Ort für Snowboarder und Freeskier schlechthin: fürs Abhängen am Berg, Partymachen und um alles auszuprobieren, was akrobatisch an die Grenzen ging. Dies hat dazu geführt, dass sich die Weltelite im Slopestyle regelmäßig in Laax trifft (beim Weltcupbewerb zuletzt stand Anna Gasser auf dem Podest). Hier werden jedes Jahr vier Parks angelegt, mittendrin die weltgrößte Halfpipe. Anfänger können hier erste Versuche auf Boxen und Rails machen. Sprünge lassen sich auch in der Halle der Freestyle-Academy zwischen Trampolinen und Luftkissen trainieren.
Jüngerer Durchschnitt
Heute wird man auf den langen Pisten und Freeride-Routen von Laax, Flims und Falera noch immer viele Snowboards sehen – und mehr Sportler mit weiterer Goretex-Kluft und Freeride-Ski als solche mit Slimfit-Skidress und RaceCarvern. Die Boarder und Freestyler von einst sind älter geworden, bleiben aber der Destination treu. Bloß mit mehr Budget, sodass sie sich in die modernen Kuben des Rocksresort (ein Design-Hotel) oder im Riders Hotel, beide gleich bei der Talstation, einquartieren. Vegetarisch lässt es sich da auf hohem Niveau speisen, dazu feinen Schweizer Wein trinken. Upgecyceltes Interieur passt dazu. Ideen wie Wände voller Schallplatten, Bücher oder Retro-Computer in den Bergstationen kommen bei den meisten Enddreißigern vermutlich auch gut an – so der kolportierte Altersdurchschnitt der Laax-Winterurlauber.
Das Publikum wirkt zudem recht international, gemessen an der aktuellen Coronasaison. Dass man in der Schweiz ist, vergisst man dennoch keine Sekunde. Erstens sind viele Inlandsgäste unterwegs, dem Idiom nach. Aber vor allem (ja, ein Klischee) ist es dieses Organisierte im Lockeren. Sind die genauen 2-G-Kontrollen am Eingang zur Gastronomie überwunden und ist der Stempel auf dem Handrücken, sitzt man auch schon zünftig neben einer Esse, an der der Koch von riesigen Käselaiben Scheiben fürs Raclette heruntersäbelt. Schnallt man die Ski bei der Bushaltestelle ab, steht auch schon das Postauto oder ein anderer Shuttle da. Schaut man auf die Speisekarte, gibt’s statt Gummigermknödel und TK-Pommes Regionales wie Capuns und Pizzoccheri, zwar zu österreichischen Menü-Preisen, doch die Portionen sind groß für zwei. Oben auf den Hütten halten es die Schweizer oft mit der Stille – die Gäste sind eh laut und ausgelassen genug. Und wenn die Musik spielt, dann gewiss nicht von der peinlichen Sorte österreichischer Abfüllstationen.
Und weiter weg? Verliert sich der Nachhaltigkeitsgedanke mit dem Abstand zum Skilift? Nein, denn hier arbeiten die Gemeinden auch mit der „Weissen Arena Gruppe“zusammen. Und ohnedies ist die Botschaft angekommen, dass dem in den Alpen deutlichen Temperaturanstieg
Vernunft entgegenzusetzen ist. Ein gelungenes Beispiel, wie sich etwa ein Bau umnutzen und energieeffizient führen lässt, ist das zwei Jahre junge „Wellness-Hostel 3000“über dem Laaxer Schwimmbad. Hier wurde vieles ausgereizt – beginnend bei hochwertigem, robustem Inventar über ein umweltfreundliches Putzkonzept, endend bei ausgeklügelter Wassertechnik für das große Sportbecken. An eine Jugendherberge erinnert hier nicht viel, abgesehen vom puren Design mit viel heimischem Holz. Neu ist die Kombination eines Hostels mit dem Spa-Gedanken. Doch es lag nahe, das komplett sanierte Schwimmbad, Saunen und Dampfbad nicht nur den Einheimischen, sondern auch den Gästen in den Etagen darüber zugänglich zu machen.
Nicht alle von ihnen gehen Skifahren. Zumindest nicht jeden Tag. Dann marschiert man vielleicht – nach einer kleinen Busfahrt – durch die verstreuten Dörfer in einer bemerkenswerten Landschaft, die vor rund 10.000 Jahren durch einen spektakulären Bergsturz geformt wurde. Resultat dieses Ereignisses ist auch die Rheinschlucht, die sich nicht weit von Flims und Laax auftut – ein Naturwunder, das sich bei einer Zugfahrt mit der Rhätischen Bahn bestaunen lässt.
Neuerdings kann man in Laax auf mittlerer Baumhöhe durch den Wald wandern. Vor Kurzem wurde da der längste Baumwipfelweg der Welt eröffnet, eine verschlungene Route durch einen artenreichen alpinen Wald voller Stille, mit mehreren Plattformen zum Rasten und In-die-Natur-Hineinhören. Der Skibetrieb scheint hier zwischen Lärchen, Tannen und Arven weit weg – und doch nah, denn schließlich landet man unweit der Laaxer Talstation wieder tief auf dem Boden. Und da wäre bei aller Nachhaltigkeit noch die Anreise: Zugegeben, die ist, verzichtet man auf einen Flug nach Zürich, lang. Aber: Es gibt einen Nachtzug ab Wien. Wachen Auges mit der Schweizer Bahn dann nach Graubünden weiterzureisen ist auch kein Fehler: Spätestens beim Walensee taucht man in eine bizarre Bergwelt ein. Und wenn man dann in Chur in den Postbus umsteigt, weiß man, dass die Schweizer Öffis wohl die zuverlässigsten Verkehrsbetriebe der Welt sind. Langsames Annähern, auch das hat was.