Müssen wir mehr Gas einbunkern?
Energie. Europa will unabhängiger vom großen Gaslieferanten Russland werden. Sonne, Wind und Wasser reichen dafür noch nicht. Strategische Gasreserven könnten rasch helfen.
Wien. Während die USA fast schon täglich vor einem Einmarsch der Russen in die Ukraine warnen, läuft die europäische Krisendiplomatie auf Hochtouren. Nach Emmanuel Macron stattet am Dienstag auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Besuch ab. Sein Ziel ist klar: Die drohende Eskalation der Ukrainekrise verhindern und zwar am besten, ohne den wichtigsten Gaslieferanten zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
Zwei Monate vor Ende der Heizperiode ist Europa in einer heiklen Lage. Die europäischen Erdgasspeicher sind nur noch zu einem Drittel gefüllt, die österreichischen Speicher liegen sogar bereits unter der Zwanzig-Prozent-Marke. Der Industrie drohen Versorgungsengpässe und weiter steigende Energiekosten. Im letzten Jahr haben sich die Gas-Großhandelspreise etwa versechsfacht.
Und während Amerika und die EU an Sanktionen feilen, die Moskau im Ernstfall die Entschlossenheit der westlichen Partner vor Augen führen sollen, stellt sich die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Und wie kann sich der Kontinent von seinem Energielieferanten emanzipieren?
Nord Stream 2 wird überschätzt
Folgt man der öffentlichen Debatte, scheint die umstrittene Erdgaspipeline Nord Stream 2 das größte Faustpfand des Westens gegen Moskau zu sein. Kommt es zu einem Einmarsch in die Ukraine, wird Deutschland wohl die Genehmigung für die russische Ostsee-Pipeline nicht erteilen. Viel mehr als eine Geste ist das aber nicht. Für die Versorgungssicherheit der EU spielt die umstrittene Leitung keine sonderlich große Rolle.
Bis zur Jahrhundertmitte soll Europas grüne Wende weg von fossilen Rohstoffen den Kontinent ohnedies gänzlich unabhängig von Öl- und Gaslieferungen machen. Mehr Leitungen, mehr Flüssiggas-Lieferungen und neue Partnerschaften mit gasreichen Staaten, wie sie die EU gerade mit Katar verhandelt, sollen schon früher spürbare Entlastung bringen. Doch auch das dauert. Kurzfristig hat die EU nur eine Option in der Hand, argumentiert Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies: Die Union sollte strategische Reserven im Erdgasbereich aufbauen. Anders als bei Erdöl gibt es hier bisher keinen gemeinsamen Rahmen, der zumindest ein Mindestmaß an Versorgungssicherheit garantiert.
Ähnlich sieht das auch Österreichs Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP). Der Konflikt mit Russland sei ein „Weckruf“gewesen, Europa müsse künftig „sicherstellen, dass genug Energie da ist“, sagte sie in der ORF-Pressestunde. Als erste Vertreterin der heimischen Regierung sprach sie sich offen für den Aufbau strategischer Gasreserven in Österreich aus. Schon diese Woche will die Ministerin erste Gespräche mit den heimischen Gasspeicherbetreibern führen.
Die Idee dahinter ist nicht neu. Nach der Erdölkrise der 1970er-Jahre führten Staaten weltweit strategische Reserven für Erdöl ein. In Österreich regelt das Erdölbevorratungsgesetz, dass stets genug Öl auf Lager liegt. Bezahlt wird die Reserve von Unternehmen, die Öl einführen oder verarbeiten. In einem ersten Schritt könnte Europa nun also auch Gaslieferanten verpflichten, ihren Lagerbestand zum Ende des Sommers aufzufüllen, schlägt Daniel Gros vor. Das wäre vor allem in Hinblick auf Gazprom interessant. Denn im letzten Sommer hat das russische Unternehmen genau das Gegenteil getan, seine Speicher in Europa geleert und damit den Druck auf den europäischen Gasmarkt bis heute merkbar erhöht.
Darüber hinaus müsse die EU auch ausreichend Vorräte für drei Monate aufbauen. Diese strategische Reserve gäbe Europa bei politisch motivierten Lieferunterbrechungen ausreichend Zeit, um die Versorgung über andere Quellen – etwa den vermehrten Bezug von Flüssiggas – sicherzustellen. Die Kosten für das Projekt taxiert der Ökonom vom Centre for European Policy Studies auf „bezahlbare“zehn Milliarden Euro.