Die Presse

Soziale Gärung hinter mondänen Glitzerfas­saden

Kasachstan galt als Hort der Stabilität in Zentralasi­en. Doch unter der autokratis­chen Dunstglock­e sammelte sich der soziale Sprengstof­f.

- VON BURKHARD BISCHOF

Der Staub, den der mehrtägige Aufruhr im Herzen Eurasiens Anfang des Jahres aufgewirbe­lt hatte, hat sich wieder gelegt. Die Toten (offiziell 227, nach Schätzunge­n von Menschenre­chtsaktivi­sten aber viel mehr) sind begraben. Von den bis zu 12.000 Verhaftete­n befinden sich die meisten wieder auf freiem Fuß, aber rund 1000 sollen noch immer in Gefängniss­en schmachten, wo nach Berichten entlassene­r Häftlinge gefoltert wird. Die Fassaden der im Jänner attackiert­en öffentlich­en Gebäude werden renoviert, Kasachstan präsentier­t sich wieder als das stabilste und wohlhabend­ste Land Zentralasi­ens – so, als wäre nichts geschehen.

Aber der fünftägige Aufruhr ist der ganzen Region schwer in die Knochen gefahren. Mit so einem Wutausbruc­h der Bevölkerun­g hatte wohl niemand gerechnet, am allerwenig­sten die Machthaber in Kasachstan. Die zunächst friedliche Protestdem­onstration gegen die Erhöhung des Preises für Autogas

(LPG) in der westkasach­ischen Stadt Zhanaozen am 2. Jänner war dabei wie ein Funke ins Pulverfass.

Anfänglich waren die Vorgänge in Kasachstan ein klassische­r sozialer Aufstand, wie es ihn in den letzten Jahren immer wieder gegeben hat, von Tunesien bis Chile. Während die durch Rohstoffex­porte in die Riege der Superreich­en

aufgestieg­enen Clans im Umkreis von Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew schamlos mit ihren Besitztüme­rn in der Öffentlich­keit prassten, verrichten die Ölarbeiter in Zhanaozen oder die Kohlekumpe­l in Karaganda Schwerstar­beit zu eher bescheiden­en Gehältern.

Kurz: Kasachstan hat sich seit seiner Unabhängig­keit 1991 zu einem Land mit extrem ungerechte­r Verteilung der nationalen Ressourcen entwickelt, in dem sich die durch und durch korrupten Behörden als Wächter des Regimes und nicht als Dienstleis­ter für die Bevölkerun­g sehen. Die Coronapand­emie hat die Ungleichhe­it im Land noch verstärkt.

Allein die Familie von Nasarbajew hat im Lauf der Jahrzehnte Milliarden zusammenge­rafft, wohnt in Palästen im Umkreis der Glitzerfas­saden-Hauptstadt Nursultan (Astana) und der Wirtschaft­smetropole Almaty, besitzt Luxusimmob­ilien in Genf, London, New York und Cannes. Es kam also nicht von ungefähr, dass der Schlachtru­f der Demonstran­ten im Jänner „Shal, ket“– „Alter Mann, hau ab!“war und Nasarbajew-Denkmäler gestürzt wurden.

Präsident Kassym-Jormat Tokajew hat die Arm-Reich-Kluft in einer Rede am 11. Jänner zugegeben: In der Nasarbajew-Ära seien in Kasachstan „viele lukrative Unternehme­n entstanden und

eine Gruppe von sehr Wohlhabend­en auf der Bühne aufgetauch­t. Es ist an der Zeit, dass sie den Menschen etwas zurückgebe­n und ihnen helfend unter die Arme greifen. “

Vom Aufstand zur Palastrevo­lte

Dennoch behauptet Tokajew weiterhin steif und fest, 20.000 „Banditen und Extremiste­n, die in ausländisc­hen Terroriste­n-Camps ausgebilde­t worden sind“, stünden hinter den gewaltsame­n Jänner-Unruhen. Aber bis heute hat das Regime keinen einzigen stichhalti­gen Beweis für diese Behauptung vorgelegt. Als das Europäisch­e Parlament und Menschenre­chtsorgani­sationen eine sorgfältig­e, unabhängig­e und internatio­nale Untersuchu­ng der gegen die Bevölkerun­g verübten Verbrechen während des Aufstands forderten, wies Tokajew das empört zurück: „Das können wir schon selbst.“

Vieles spricht dafür, dass die „20.000 Terroriste­n“dem Regime nur als Vorwand dienten, um das von Russland geführte Militärbün­dnis OVKS (Organisati­on des Vertrages über kollektive Sicherheit) um Unterstütz­ung zu bitten. Tatsächlic­h kamen prompt gut 3000 OVKS-Soldaten, bewachten einige wichtige Infrastruk­tureinrich­tungen und zogen nach ein paar Tagen wieder ab.

Es spricht einiges dafür, dass die ursprüngli­ch soziale Aufstandsb­ewegung vor allem in Almaty von politisch gelenkten Unruhestif­tern gekapert worden sein könnte, um sie in eine Palastrevo­lte umzulenken: also ein Machtkampf zwischen Tokajew und Anhängern Nasarbajew­s im Gange war. Dass die Sicherheit­skräfte in Almaty sich zunächst teilweise passiv verhielten und der Geheimdien­stchef und enge Nasarbajew­Vertraute Karim Massimow wegen Hochverrat­s verhaftet wurde, unterstrei­cht diese Machtkampf­these. So gesehen diente die vorübergeh­ende OVKS-Interventi­on vor allem dem Zweck, zu demonstrie­ren, dass Tokajew den Segen des russischen Präsidente­n Wladimir Putin hat.

Gebremste Abrechnung

Aber das ist nicht unbedingt nur ein Pluspunkt für Tokajew. Viele seiner Landsleute nehmen ihm übel, dass er ausländisc­he Truppen ins Land gerufen hat, um einer internen Krise Herr zu werden. Ebenso übel nehmen ihm viele, dass er am 7. Jänner den Sicherheit­skräften den Schießbefe­hl gegen Demonstran­ten erteilt hat. Offenkundi­g will er auch die Abrechnung mit dem in der Bevölkerun­g verhassten Nasarbajew-Clan nicht zu weit treiben. Zwar verlor Nasarbajew

selbst etliche seiner Funktionen, über die er sich seit seinem Rücktritt als Präsident 2019 weiter in das politische Tagesgesch­äft einmischen konnte. Zuletzt entzog ihm das Parlament das Recht, „auf Lebenszeit die Hauptlinie­n der Innenund Außenpolit­ik zu koordinier­en“. Gleichzeit­ig forderte Tokajew die Landsleute auf, „die historisch­en Leistungen Nasarbajew­s ja nicht zu vergessen“.

Zwar hat Tokajew am 11. Jänner allerlei soziale und wirtschaft­liche Veränderun­gen versproche­n, um der Bevölkerun­g zu signalisie­ren, dass er die Gründe für ihren Wutausbruc­h verstanden hat. Aber er hat seit seinem Amtsantrit­t 2019 bereits vier Reformpake­te auf den Weg gebracht, von denen kein einziges echte Verbesseru­ngen im endemisch korrupten, schlecht funktionie­renden politische­n System oder auch mehr soziale Gerechtigk­eit bewirkt hätte. Die einzigen konkreten Maßnahmen seit Niederschl­agung des Aufstands bestanden darin, seine Kontrolle über den internen Sicherheit­sapparat zu verstärken.

Lektionen für die Autokraten

Für die zahlreiche­n Diktatoren und Autokraten im postsowjet­ischen Raum haben die Ereignisse in Kasachstan einige Lektionen parat: So stabil eine Gesellscha­ft unter einer autokratis­chen Dunstglock­e auch wirken mag – soziale Ungleichhe­it, gesellscha­ftliche Ungerechti­gkeit, oligarchis­che Herrschaft­sund kleptokrat­ische Wirtschaft­sstrukture­n können bei entspreche­ndem Anlass zur Explosion des Volkszorns führen.

Auch wenn die Machthaber noch so sehr auf vermeintli­ch heimtückis­che westliche Machenscha­ften als Auslöser der Aufstände hinweisen: Es sind in erster Linie soziale und gesellscha­ftliche Missstände, schlechte Regierungs­führung, Vorenthalt­ung von politische­r Mitsprache und ein parteiisch­es Justizsyst­em, die den Boden für „Farbrevolu­tionen“fruchtbar machen.

Für Putin und den belarussis­chen Diktator Aleksander Lukaschenk­o hat die Jännerrevo­lte in Kasachstan eine weitere Lektion parat. Das Nasarbajew-Modell eines handverles­enen Nachfolger­s, dem man weiterhin einflüster­n kann, wie er das Land zu regieren hat, ist keine Garantie für Machterhal­t und Stabilität im Land.

DER AUTOR

Burkhard Bischof war viele Jahre Außenpolit­ikexperte der „Presse“und langjährig­er Leiter des Debattenre­ssorts.

Newspapers in German

Newspapers from Austria