Die Presse

Ich bin Wählender, alle vier Jahre für 10 Minuten

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Eine Sprachkrit­ik

Es gab eine Zeit, da war man wer, da hat man was gelernt oder man lehrte, man übte ein Handwerk aus oder saß an einem Schreibtis­ch, und man nannte sich Lehrling oder Schüler und Schülerin, Student oder Studentin, Angestellt­er oder Angestellt­e. Es fing ganz harmlos an. Irgendwann wurde aus dem Lehrling ein Auszubilde­nder. Warum? Um den Lehrherrn daran zu erinnern, dass ein Azubi nicht nur die Werkstatt fegen können sollte. Aber damit begann der Wandel vom Sein zum Tun. Es reicht jetzt nicht mehr, etwas zu sein, man muss es auch tun oder geschehen lassen, und das ständig.

So entwich ein neuer Sprachviru­s aus den Handwerks- und Handelskam­mern im deutschen Sprachraum und nistete sich zunächst in akademisch­en Zirkeln ein. Studenten und Studentinn­en wurden plötzlich zu Studierend­en, obwohl sie es nachgewies­enermaßen gar nicht ständig tun; zumindest nicht, wenn sie schlafen oder demonstrie­ren. So wurde eine Tätigkeit in der Verlaufsfo­rm zum Ersatz für die Status- oder Berufsbeze­ichnung – mit ungeahnten Folgen. Zwar umging man damit die leidige gendergere­chte Sprache, handelt sich aber unerwünsch­te Nebenwirku­ngen ein.

Da stellt sich schon die Frage, was schlimmer ist, das Leiden oder die Therapie. So stieß ich kürzlich in einer Tageszeitu­ng zum ersten Mal auf den Begriff „Wählende“. Wie bitte? Ich bin immer noch ein Wähler, das ist ein mir verliehene­s Recht und nur ca. alle vier Jahre eine Tätigkeit von ca. zehn Minuten. Bin ich deswegen von nun an ein Wählender? Sicher nicht.

Wenn aus meinem Bäcker ein

Backender und mein Hausarzt zu einem Verarztend­en wird, wandere ich aus und nenne mich Auswandern­der, bis ich irgendwann zum Angekommen­en werde.

Heinz Rotte, 1220 Wien

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