„Es ist eine Art Syrianisierung des Kriegs eingetreten“
Analyse. Bundesheer-Oberst Georg Reisner ortet Erstarren der Fronten und Beginn eines Abnützungskriegs. Ukrainer zu schwach für Großoffensiven.
Kiew/Moskau/Wien. Gut einen Monat nach Kriegsbeginn gibt es Anzeichen, dass die Ukrainer im Raum Kiew eine zumindest lokale Entlastung erreichen konnten: Laut auch von Großbritannien bestätigten Berichten konnten sie die Spitze des von Osten kommenden Stoßkeils des russischen Heeres zurückdrängen und 35 Kilometer von Kiew entfernt Position beziehen. Dieser Keil ist der längste der auf Kiew abzielenden, seine Kräfte haben sich entsprechend verdünnt und die Nachschublinien überdehnt. Tatsächlich hieß es auch in Kiew, die Russen seien zurückgewichen, weil das Material ausgehe.
Im Südosten haben die Russen den Landkorridor zwischen der Krim und dem Donbass geschlossen. Dort leistet nur noch Mariupol größeren Widerstand. Es gibt aber wieder Berichte über zivile Proteste in der Südukraine. Im Südwesten bei Cherson wurde heftig gekämpft, die Russen kommen nicht weiter, und es sieht gar nach einem Rückzug auf die Stadt am Dnipro aus. Einige Geländegewinne gelangen im Osten, etwa bei Isjum.
Premiere der Kriegsgeschichte
Jenes große Panzerlandungsschiff der Schwarzmeerflotte, das am Donnerstag im Hafen von Berdjansk (Ukraine) in Flammen aufgegangen ist, dürfte von einer Kurzstreckenrakete Totschka (SS-21 Scarab) mit 120 km Reichweite getroffen worden sein. Das wäre eine historische Premiere, da nie zuvor eine ungelenkte ballistische Rakete auf größere Entfernung ein Schiff getroffen hat; hier hat es allerdings ein ruhendes Ziel abgegeben.
Nach Angaben des Moskauer Generalstabs konzentriere man sich nun auf die „völlige Befreiung“des Donbass. Das sowie die Schwächung des ukrainischen Militärs, die man bewirkt habe, sei ohnehin „das Hauptziel“. Die Aussage wurde vielfach so interpretiert, dass sich Moskau mit der Eroberung der kompletten Donbassregion, also Teilen der Südostukraine, zufriedengeben könnte, um weitere Ziele aufgeben zu können und so das Gesicht nicht zu verlieren.
Nach Angaben von Militärexperten und westlichen Geheimdiensten geht den Russen in der Ukraine zusehends die Luft aus. Die Nachschubprobleme würden nicht besser, die Attacken ukrainischer Kräfte in den besetzten Gebieten ebenso zunehmen wie die Moral vielfach fallen. Mehr als die Hälfte der Marschflugkörper und sonstigen Präzisionsmunition wiesen Defekte auf. Die durch ihre Doktrin begründete Eigenheit der Russen, Fahrzeuge bei Beschädigungen oder leeren Tanks einfach und meist unbewacht stehen zu lassen, liefere den Ukrainern leichte Beute – weil die von den Russen erwartete Verstärkung samt Nachschub oft nicht eintreffe.
Oberst Georg Reisner vom Bundesheer sieht indes auch die Ukrainer als stark geschwächt an. Es dürfte ihnen unmöglich sein, größere Gegenoffensiven zu unternehmen, da gepanzerte und mechanisierte Kräfte fehlten. Auch würden dann diese einer starken Panzerabwehr gegenüberstehen. Mehr als das Halten von Gebieten durch Infanterie mit bisweilen Artillerieunterstützung plus „Nadelstiche“im Hinterland der Russen seien kaum möglich. Reisner vermutet ein weitgehendes Erstarren der Front, zumal schon der Boden aufweicht, samt Kämpfen um Städte. Letztlich ein Abnützungskrieg wie in Syrien: „Es ist eine Art ,Syrianisierung‘ eingetreten“, so Reisner.