Ukraine-Flüchtlinge als „Präzedenzfall“
Interview. Der Migrationsforscher Rainer Bauböck fordert: EU-Staaten sollen Kosten für die Integration der Vertriebenen aufteilen.
Die Presse: Die EU-Kommission schätzt, dass vier Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine kommen könnten, der Migrationsforscher Gerald Knaus rechnet mit bis zu zehn Millionen. Wo siedeln Sie Ihre Schätzungen an?
Rainer Bauböck: Das hängt vom Kriegsverlauf ab. Wenn es Putin gelingt, in der Ukraine eine Diktatur wie in Belarus zu installieren, könnte es schon sein, dass ein Viertel der 40 Millionen Einwohner keine andere Perspektive als die Flucht sieht.
Muss Europa für dieses Szenario planen?
Das würde ungeheure Investitionen erfordern. Ich würde daher eher raten: So wie in der Covid-Pandemie müssen wir uns auf unterschiedliche Szenarien einstellen. Das Wichtigste ist, dass wir uns darauf vorbereiten, dass viele länger in den EU-Staaten bleiben werden und wir ihnen Integrationsmaßnahmen anbieten.
Sprechen wir vorher noch über die Verteilung der Vertriebenen. Deutschland will sie nach Quoten auf die EU aufteilen. Aber widerspricht das nicht der Reisefreiheit der Ukrainer? Das unterscheidet ja den temporären Schutz der Massenzustromrichtlinie vom Asylverfahren: Die Ukrainer sollen dorthin gehen können, wo sie Kontakte, Familie, Chancen haben.
2015/2016 ist die Quotenregelung gescheitert, weil man Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan in Länder schicken wollte, wo sie nicht hinwollten und die sie nicht haben wollten. Heute sind die Voraussetzungen anders, trotzdem kann eine Quotenregelung nur die zweitbeste Lösung sein. Eine Verteilung entlang der bestehenden ukrainischen Netzwerke schafft viel bessere Bedingungen für die Integration. Doch natürlich ist diese Verteilung geografisch sehr ungleich. Um das auszubalancieren, müsste man zwei Dinge machen: Erstens müssten sich die Staaten, die weniger Flüchtlinge bekommen, massiv an den Integrationskosten in jenen Staaten beteiligen, die sehr viele aufnehmen. Und zweitens könnten Staaten, die heute keine Zielländer sind, Geflüchteten aktiv einen Neustart anbieten und dafür EU-Mittel bekommen. Für eine solche Verteilung könnten auf EU-Ebene Quoten verhandelt werden, aber es wären Quoten ohne Zwang gegenüber den Geflüchteten oder Staaten.
Die finanzielle Aufteilung der Integrationskosten, also die sogenannte flexible Solidarität, muss es aber jedenfalls geben?
Absolut. Europäische Solidarität darf nicht wie 2015 wieder zu kurz kommen. Es dürfen sich nicht wieder jene Staaten heraushalten, die weniger betroffen sind. Der Vorteil ist diesmal: In der Vergangenheit waren stets die Mittelmeerländer auf Solidarität angewiesen, jetzt sind es die osteuropäischen Länder. Staaten wie Polen, die bis vor Kurzem keine Flüchtlinge aufnehmen wollten, haben jetzt ein großes Interesse, dass die anderen nicht den früheren polnischen Standpunkt einnehmen.
Braucht es in der Situation einen EUFlüchtlingskoordinator?
Das wäre wünschenswert – auch symbolisch. Dadurch könnten die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen von den Sicherheitsund Grenzschutzagenden abgekoppelt werden, die bisher immer Priorität hatten.
Hätte man bereits 2015 die Massenzustromrichtlinie in Kraft setzen sollen?
Ja, die Richtlinie, die ja bereits 2001 beschlossen wurde, war für genau solche Krisen vorgesehen.
Dennoch betonten viele Politiker, auch in Österreich, dass man 2015 und 2022 absolut nicht vergleichen kann. Haben sie recht oder ist das Taktik?
Wenn man es realistisch betrachtet, hat es sehr viel mit politischer Taktik zu tun, nämlich mit der Darstellung von muslimischen Geflüchteten als unerwünscht. Man hat damals vermittelt, dass es zwar das individuelle Asylrecht gibt, aber dass dieses nicht gewährt werden muss, wenn die Länder nur weit genug weg sind und man Druck ausüben kann, dass die Geflüchteten in den Nachbarstaaten – also in der Türkei, in Jordanien, im Libanon – bleiben. Jene, die 2016 aus Aleppo geflüchtet sind, sind aber genauso Opfer russischer Flächenbombardements gewesen wie die Menschen, die aus Mariupol kommen. In Bezug auf die Fluchtgründe gibt es keinen wesentlichen Unterschied. Der Unterschied war, dass man damals meinte, es sei politisch nicht verkraftbar, dass diese Menschen sich selbst ihre Zielländer suchen. Im Rückblick zeigt sich aber, dass die damalige Bemerkung von Kanzlerin Merkel, „Wir schaffen das“, nicht unrichtig war. Denn wenn die EU heute vier bis zehn Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen kann, dann hätte sie es auch damals geschafft. Die Gründe für das Scheitern europäischer Solidarität sind zwar politisch nachvollziehbar, aber das ist keine moralische Rechtfertigung.
Laut der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger diskutiert man in Fachkreisen über eine Repolitisierung der Flüchtlingsfrage, also dass Europa wie im Kalten Krieg Flüchtlinge vorrangig aus politischen Gründen aufnimmt.
Die jetzige Situation wirft sicher Schlaglichter auf die Fehler, die 2015 gemacht wurden. Aber es wäre falsch, deswegen die jetzige Großzügigkeit kritisch zu sehen. Für die Zukunft ist meine vage Hoffnung, dass die heutigen Antworten auf Geflüchtete unabhängig von der Herkunft übertragen werden, also dass man in analogen Situationen Geflüchtete aus Afrika oder dem Nahen Osten genauso behandelt. Das alternative Szenario einer strikten Regionalisierung des Flüchtlingsschutzes wäre ein Rückschritt in die Zeiten des Kalten Kriegs und hat – wie die Todesbilanz im Mittelmeer zeigt – hohe menschenrechtliche Kosten.
Das heißt, bei der nächsten großen Fluchtkrise müsste man wieder die Massenzustromrichtlinie anwenden?
Genau. Ich glaube, dass jetzt ein Präzedenzfall geschaffen wurde. In Zukunft wird es schwer sein zu sagen, wir setzen dieses bereits erprobte Instrument nicht mehr ein. Denn dann müsste man offen deklarieren, dass man bei Geflüchteten aufgrund der Herkunft unterscheidet.
Österreich hat Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhalten, bei der Umsetzung der Richtlinie nicht inkludiert. War das kleinlich?
Deutschland wendet die Richtlinie auf alle an, die aus der Ukraine flüchten, ohne nach der Staatsangehörigkeit zu unterscheiden. Ich finde das korrekt. Dass Österreich unterscheidet, ist nicht akzeptabel. Man muss bedenken, dass viele dieser Menschen ebenso ihre Existenzgrundlage verloren haben. Es geht hier auch nicht um eine gewaltige Zahl. Insofern halte ich es für kleinlich, und es setzt ein falsches Signal, nämlich dass wir nach Identität und Herkunft unterscheiden und nicht nach Fluchtgrund.
Glauben Sie, dass die Ukraine-Krise die Situation von Flüchtlingen verbessern könnte? In Österreich merken jetzt gerade viele, wo es in der Grundversorgung bei Asylwerbern hakt. Es gibt Debatten über Zuverdienstgrenzen, Mietzuschüsse etc.
Ich würde das nicht ausschließen, aber ich habe Zweifel. Man wird sehr bemüht sein zu betonen, dass das eine Ausnahmesituation ist. Nur muss man sich bewusst sein, dass viele der Ukraine-Flüchtlinge länger bleiben werden. Spätestens in einem Jahr muss man die Regeln nachbessern und Gleichstellung bei Sozialleistungen anpeilen. Entscheidend ist die rasche Integration in den Arbeitsmarkt, die ja Asylwerbern verweigert wird.
Weil Sie sagen „Regeln nachbessern“: Die Kritik der Arbeiterkammer, dass man gleich einen längeren temporären Schutz hätte gewähren sollen, damit sich z. B. eine Lehre auszahlt, teilen Sie also nicht.
Das Argument hat etwas für sich. Ich würde sagen, man muss den Menschen vor allem beide Optionen offenhalten: zu bleiben oder zurückzukehren. Wenn jemand eine dreijährige Lehrstelle bekommen könnte, soll der Arbeitgeber ihm diese bitte geben. Auch wenn er das Risiko hat, dass der Lehrling in die Ukraine zurückkehrt, wenn er das kann und will. Jetzt mit der Lehre ein Jahr zuzuwarten, wäre verkehrt, das wissen wir aus den vielen gescheiterten Integrationskarrieren von 2015. Möglicherweise bilden wir eben Lehrlinge aus, die dann in der Ukraine arbeiten werden. Das wäre aber nicht die schlechteste Form der Wiederaufbauhilfe.
Wie beurteilen Sie das Risiko, dass die Stimmung der Empathie wie 2015 kippt?
Es gibt zwei Szenarien, in denen das passieren könnte: Das eine wäre eine Mobilisierung des Wohlfahrts-Chauvinismus – also dass man den Geflüchteten vorwirft, dass sie den Sozialstaat überfordern und dass sie Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sind. Das andere Szenario betrifft Sicherheitsbedenken. 2016 ist die Stimmung nach der Silvesternacht in Köln gekippt. Bei der Ukraine sollte man nicht vergessen, dass diese vor dem Krieg keine superstabile Demokratie war und dass es dort auch organisierte Kriminalität gegeben hat. Kriminelle werden sich überlegen, wie sie von der jetzigen Situation profitieren können, und auch sie werden in der EU landen. Es reicht aus, wenn eine ganz kleine Zahl der Geflüchteten auffällig wird, damit die gesamte Gruppe aus einem Herkunftsland als Bedrohung wahrgenommen wird. Wenn man überlegt, wie Boulevardmedien und soziale Medien funktionieren, ist es nicht unwahrscheinlich, dass solche Fälle aufgebauscht werden, um Druck zu erzeugen. Und es gibt nach wie vor politische Parteien, die das dankbar aufgreifen werden.