Ohne Glück und Charisma: Karl I.
Am 1. April des Jahres 1922 starb Kaiser Karl I. in seinem Exil auf der Insel Madeira. Seine Bilanz: An den wichtigsten Aufgaben des Amtes ist er letztendlich gescheitert.
Man ging nicht gnädig mit ihm um, nicht zu Lebzeiten und nicht danach. Sein Leben war kurz, nicht einmal 35 Jahre, das politische Leben überschaubar, knappe acht Jahre, die Zeit der Herrschaft noch kürzer, nur zwei Jahre, und dann kam schon die Kritik der Welt danach. Ist also Österreichs glückloser Kaiser Karl I. (1887–1922) nur eine Randnotiz in der Geschichte des Landes? Vergleicht man ihn mit seinem Vorgänger, der durch seine 68-jährige Regentschaft mehrere Generationen geprägt hat und zum Mythos wurde, muss man das bejahen. Für Verehrer von Franz Joseph I. war schon 1916 die habsburgische Monarchie zu Grabe getragen worden.
Karl kam mitten im Weltkrieg an die Macht, voll guten Willens, aber mit geringer Erfahrung, beseelt von der Idee des Reiches als übernationale Rechtsordnung und gewillt, den Völkern der Monarchie die Hand zu reichen. Wenn der junge Kaiser, der bis dahin nur eine militärische Karriere verfolgt hatte und ansonsten mit der Erledigung unwichtiger Akten betraut war, je einen „Masterplan“für seinen Staat gehabt haben sollte, hätte er ihn ohnehin nicht verwirklichen können. „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“, sagte Preußens Feldmarschall Moltke. Wohl oder übel hatte sich der Kaiser, so wie seine Untertanen, dem Weltenlauf zu fügen. „Die löblichen Absichten des warmherzigen Herrschers gelangten stets zu spät zum Durchbruch“, hieß es recht wehmütig im „Tiroler Anzeiger“vom 12. November 1918, als mit der Ausrufung der Republik gerade alles zu Ende ging.
Dieser Kaiser war nicht unantastbar
Das war 1916 noch nicht abzusehen. Noch hatten sich die Nationalitäten nicht ganz vom Staat Österreich-Ungarn abgewendet, die sozialen Spannungen und wirtschaftlichen Krisen waren kriegsbedingt enorm, das waren sie aber woanders auch. Die Monarchie stand nicht vor dem Kollaps. Doch der magische Zauber, der den alten Kaiser auf unvergleichliche Weise mit seinem Offizierskorps und seiner Beamtenschaft verbunden hatte, war durch seinen Tod weggewischt. Man konnte nur auf ein Wunder hoffen, das freilich nicht eintrat. Karl hatte nicht annähernd das Charisma seines Vorgängers und war keine unantastbare Institution.
Die Idee, dass die schiere Existenz eines Monarchen das Auseinanderbrechen des Vielvölkerreichs verhindern könnte, war eine Illusion geworden. So hatte er ausschließlich gegen den Niedergang anzukämpfen. Vom ersten Tag an stürzten die Probleme auf ihn ein. Er begegnete ihnen „mit einer Mischung aus Unerfahrenheit, Idealismus, Trotz, persönlichen Präferenzen und persönlichen Abneigungen“(Manfried Rauchensteiner).
Karl hatte nicht einmal Gelegenheit, sich wirkliche Feinde zuzuziehen, eher verächtliche Gegner, die in ihm ein „Leichtgewicht“sahen. Gab es eigentlich Kräfte, die nicht gegen ihn arbeiteten, sowohl im Inneren als auch bei Feinden und Verbündeten? Sein eigener Feldmarschall, Conrad von Hötzendorf, sah ihn als militärische Null. Und umgekehrt waren der Zustand der Monarchie und die militärische Lage, die Karl vorfand, nicht dazu angetan, ihm Respekt vor Militärs und Regierung einzuflößen.
Aus einer Situation, die ihn immer mehr frustrierte, flüchtete Karl wiederholt an die vorderste Front, er sah dort das wahre Gesicht des Krieges, Verwundete und massenhaftes Sterben. Deutlicher als viele andere durchschaute er die düstere Wirklichkeit des Staates. Doch immer wieder geriet seine Friedenspolitik in eine Sackgasse. Als eine Krise die nächste jagte, war Karl zu einem Verzichtfrieden bereit, konnte aber mit der Formel vom „Frieden ohne Sieger und Besiegte“nicht durchdringen, den deutschen Bündnispartner nicht überzeugen. Karl wollte handeln, solang die Front noch hielt. Doch die Überschrift über allen Entwürfen, Manifesten und Erlässen war unausgesprochen: „Zu spät!“
Zudem versuchte er es mit sozialpolitischen Maßnahmen und wollte seine Generäle zu humanitären Maßstäben bei der Kriegsführung verpflichten. Die Kommandanten lehnten dies als „Humanitätsduselei“ab und streuten das Gerücht, er sei wie eine Marionette von seiner machtbewussten Frau, Zita, gesteuert. Die „italienische Verräterin“wurde 1918, als überall nach am Zusammenbruch Schuldigen gesucht wurde, ein willkommenes Opfer.
„Es war durchaus keine Selbstverständlichkeit, während des Ersten Weltkriegs den Krieg zu verurteilen und den Frieden zu suchen, Kaiser Karl hat sich mit dieser Politik gegen den Zeitgeist gestellt, und er tat das bewusst“, schreibt seine Biografin Eva Demmerle. Seine Friedensinitiativen mögen ungeschickt angelegt gewesen sein, aber es kamen auch keine anderen Versuche zu einem Ziel. Der Beweis, wie man es hätte besser machen können, blieb aus, so Demmerle, das strafe all diejenigen Lügen, die von seiner angeblichen politischen Talentlosigkeit sprechen. Manfried Rauchensteiner würde das vermutlich unter „Hagiografie“einordnen. Er kommt in seinem Standardwerk über diese Zeit zu dem Ergebnis, Karl habe im Ersten Weltkrieg mangels Erfahrung militärisch-politisch keine Rolle gespielt, und wenn er sich eingeschaltet habe, geschah es mitunter unbedacht und voreilig. „Sein Dilemma war, dass er versuchen sollte, gegen den Krieg und für den Frieden zu kämpfen, eine möglichst schon durch eine Reichsreform konsolidierte Monarchie aus diesem Krieg herauszuführen und die deutsche Dominanz abzuschütteln. Er ist an allen drei Aufgaben gescheitert“, so Rauchensteiner.
Mit unglaublicher Nüchternheit und Lakonie erledigten die österreichischen Zeitungen am 12. November 1918 ihre Berichterstattung über den Thronverzicht in der einspaltigen Rubrik „Kundmachungen.“„Ihm wird als Privatmann wahrscheinlich wohler sein denn als Kaiser“, hieß es in der „Arbeiterzeitung“, sei er doch ein von Natur aus gutmütiger und bescheidener Mensch. Kritischer die bürgerliche „Neue Freie Presse“: Es sei zu konstatieren, „dass zwei Jahre Lehrlingszeit auf dem Thron bei den verwickelten Zuständen in Österreich zu wenig sind“. Durch „unsichere Führung“und „Irrtümer bei der Personalwahl“sei eine der ältesten Großmächte „wie Zunder verraucht“.
Illusionäre Hoffnung auf Rückkehr
Keine Tragödie ohne Satyrspiel. Karl und Zita wollten nichts von formeller Abdankung wissen. So gab es als Kompromisslösung eine Art „Beiseitetreten“, ein Abstandnehmen von der Staatsführung. Die Republik verabschiedete sich manierlich vom Monarchen, er wurde nicht wie Kaiser Wilhelm II. ins Exil „expediert“, sondern wählte seine Zufluchtsorte selbst. Als er das Land verließ, legte er noch einmal offiziellen Protest gegen seine Absetzung ein. Die Odyssee, begleitet von der illusionären Hoffnung auf eine Rückkehr, endete auf der Atlantikinsel Madeira, wo Karl am 1. April 1922 an einer Lungenentzündung starb. 2014 wurde er als „vorbildlicher Christ, Ehemann, Familienvater und Herrscher“seliggesprochen. Eine internationale Wallfahrt, organisiert von der „Kaiser Karl Gebetsliga“, will beim Gedenken an seinem Grab am 1. April 2022 für den Frieden in der Ukraine beten.