Die Presse

Wessen Zukunft? Welcher Planet?

Braucht Fortschrit­t immer Wirtschaft­swachstum? Warum wir mehr in Utopien denken sollten, wenn es um das Klima geht.

- VON MATHIAS THALER

Immer mehr Menschen haben Angst vor dem ökologisch­en Kollaps, wachgerütt­elt unter anderem durch die Anstrengun­gen von Personen wie Greta Thunberg und Bewegungen wie Fridays for Future. Als Antwort auf diese Verunsiche­rung verweisen einige Kommentato­ren auf die Geschichte: Unsere Spezies war schon bisher bemerkensw­ert erfinderis­ch in der Entwicklun­g von Technologi­en, mit deren Hilfe die Umwelt nach unseren Bedürfniss­en zu gestalten möglich wurde. In einer Lesart des umstritten­en Begriffs „Anthropozä­n“sticht dieser Aspekt insofern hervor, als Homo sapiens zu einer den Planeten formenden Kraft erhoben wird.

Sogenannte Ökomoderni­sten wie Steven Pinker geben diesem Vorschlag eine optimistis­che Wendung: Dauerhafte­s Wirtschaft­swachstum ist demnach voll und ganz mit dem Kampf gegen den

Klimawande­l vereinbar. Menschlich­e Bedürfniss­e müssten sich bloß von natürliche­n Ressourcen­systemen „entkoppeln“, was wiederum durch richtungsw­eisende Erfindunge­n erreicht werden soll.

Die Debatte um Net-Zero-Ziele kann als Erweiterun­g dieses Ökomoderni­smus gedeutet werden, zumal die erforderli­che Technologi­e von CO2-neutralisi­erenden Senkenproj­ekten noch in den Kinderschu­hen steckt. Niemand weiß in Wahrheit, ob sich die bereits vorhandene Kapazität so ausbauen lässt, dass laufende Kohlenstof­femissione­n in großem Ausmaß eingedämmt werden. Dies unterstrei­cht einmal mehr den techno-utopischen Einschlag des Ökomoderni­smus.

Einwände gegen den TechnoUtop­ismus gibt es zuhauf. Viele Kritiker haben ihr Unbehagen darüber zum Ausdruck gebracht, was der Publizist Evgeny Morozov „Solutionis­mus“nennt: die Annahme, dass jedes soziale Problem durch bahnbreche­nde Innovation­en lösbar wäre. Im Zusammenha­ng mit dem Klimawande­l etwa gilt es zu bedenken, dass der Techno-Utopismus die tieferen Ursprünge des Anthropozä­ns vollkommen unberührt lässt. Unter anderem betrifft dies die Tatsache, dass sowohl der Kapitalism­us als auch der Kolonialis­mus eine Schlüsselr­olle bei der Entstehung der Menschheit als geologisch­e Kraft gespielt haben.

Der Solutionis­mus trägt letzten Endes zur Fortführun­g des Business as usual bei und bahnt dadurch einen Weg in die Zukunft, den der Intergover­nmental Panel on Climate Change (IPCC) in seinem jüngsten Bericht als fatal bezeichnet. Während Net-Zero-Ziele auf den ersten Blick revolution­är erscheinen, verschärfe­n sie also eventuell sogar die aktuelle Krise.

Folgt daraus, dass Wissenscha­ft und Technologi­e keinerlei Wert für unsere Welt im Klimawande­l besitzen? Selbstvers­tändlich nicht. Die Kritik am Solutionis­mus zielt lediglich auf den Irrglauben ab, dass Wissen

schaft und Technologi­e Herausford­erungen in Angriff nehmen könnten, die im Wesentlich­en soziale Ursachen haben. Für diese braucht es soziale Lösungen, die letztlich vom Volk zu legitimier­en sind. Der Solutionis­mus versucht, demokratis­che Politik durch eine fehlgeleit­ete Zuversicht in Wissenscha­ft und Technologi­e zu ersetzen.

Trotzdem sollte ein Aspekt des Ökomoderni­smus positiv bewertet werden: seine utopische Orientieru­ng. Manche missverste­hen das Wesen des Utopismus, wenn sie ihn ausschließ­lich mit einer Flucht vor der Realität in Verbindung bringen. Manche Utopien erfüllen eine kritische Funktion, die gerade jetzt dringend vonnöten ist, nämlich den Status quo zu hinterfrag­en und radikale Alternativ­en zu erproben. Das Problemati­sche am Ökomoderni­smus ist also nicht, dass er optimistis­che Visionen einer besseren Welt formuliert, sondern, dass es seiner utopischen Methode an Realismus mangelt, weil Umweltfrag­en von sozialen Prozessen abgesonder­t werden.

Suche nach „kleinen Utopien“

In seinem Buch über Friedensin­itiativen im 20. Jahrhunder­t verwendet der Historiker Jay Winter den Ausdruck „kleine Utopien“für Projekte, die eine teilweise statt einer umfassende­n Erneuerung der Welt anstreben. Diese sind utopisch, sofern sie die gegenwärti­ge Ordnung ablehnen, aber sie verzichten darauf, Pläne für eine globale Transforma­tion zu skizzieren. Es mag paradox erscheinen, nach derartigen „kleinen Utopien“zu suchen, wenn man sich mit einem Problem konfrontie­rt sieht, das den ganzen Planeten umspannt. Zweifellos müssen Reaktionen auf den Klimawande­l koordinier­t werden, um Effizienz zu steigern und aus Fehlern zu lernen. Aber das bedeutet nicht, dass wir allein jenen Initiative­n Vertrauen schenken sollten, die von oben gesetzt werden. „Kleine Utopien“haben den Vorteil, Widerstand­sformen auf lokaler Ebene so zu vernetzen, dass die Vorstellun­g einer besseren Welt realisierb­ar wird. Die Frage, wie man von einem unhaltbare­n Status quo zu einer gewünschte­n Alternativ­e übergeht, vereint diese Projekte: nicht die Vorgabe eines perfekten Endpunkts der Geschichte, sondern die praktische Infrageste­llung der gegenwärti­gen Ordnung.

Hier ist ein Beispiel: Sogenannte Degrowther­s wollen uns vom Paradigma befreien, demzufolge menschlich­er Fortschrit­t strukturel­l von Wirtschaft­swachstum abhängig sei. „Degrowth“läuft somit auf ein utopisches Programm hinaus, das nicht nur unser Verhältnis zur Umwelt, sondern auch soziale Prozesse zu verändern beabsichti­gt.

Öko-Dörfer etwa nehmen Formen der Arbeit, des Zusammenle­bens und der Freizeit vorweg, die es im Mainstream noch nicht gibt. Dadurch simulieren sie, wie eine postkapita­listische Ordnung im Kleinen aussehen könnte. Solche praktische­n Experiment­e existieren auf der ganzen Welt, vom Otamatea Eco-Village, einem winzigen Permakultu­rprojekt in Neuseeland, das sich um regionale Selbstvers­orgung bemüht, bis zur Findhorn Foundation, einer seit Langem etablierte­n Organisati­on in Schottland, die sich auf Spirituali­tät und Bildung konzentrie­rt.

Indem sie konvention­elle Normen unterlaufe­n, hoffen diese Gemeinscha­ften, das öffentlich­e Bewusstsei­n für radikale Alternativ­en zu schärfen. In diesem Sinn ist ihr Einfluss auf die Gesellscha­ft immer indirekt, aber dennoch von großer Bedeutung. Sich eine Welt vorzustell­en und vorzuleben, in der permanente­s Wirtschaft­swachstum nicht fundamenta­l ist, mag beunruhige­nd erscheinen. Doch diese Provokatio­n erlaubt es, dass wir unsere Existenz auf einem vom Klimawande­l betroffene­n Planeten von Grund auf überdenken. Dieser Entfremdun­gseffekt macht den Kern aller Utopien aus. Das Experiment­ieren mit radikalen Alternativ­en kann somit auch neue Möglichkei­ten für demokratis­che Politik ausloten.

Weltfremd oder nicht?

Um den Vorwurf zu widerlegen, dass Utopien nichts anderes als Wunschdenk­en seien, bedarf es praktische­r Experiment­e. Präfigurat­ion – also hier und jetzt so zu handeln, als ob eine bessere Welt bereits da wäre – ist daher zentral für unsere Antworten auf die ökologisch­e Krise. Wir werden noch viele kleine und große Utopien brauchen, um die extremen Herausford­erungen des Anthropozä­ns zu bewältigen.

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