Wessen Zukunft? Welcher Planet?
Braucht Fortschritt immer Wirtschaftswachstum? Warum wir mehr in Utopien denken sollten, wenn es um das Klima geht.
Immer mehr Menschen haben Angst vor dem ökologischen Kollaps, wachgerüttelt unter anderem durch die Anstrengungen von Personen wie Greta Thunberg und Bewegungen wie Fridays for Future. Als Antwort auf diese Verunsicherung verweisen einige Kommentatoren auf die Geschichte: Unsere Spezies war schon bisher bemerkenswert erfinderisch in der Entwicklung von Technologien, mit deren Hilfe die Umwelt nach unseren Bedürfnissen zu gestalten möglich wurde. In einer Lesart des umstrittenen Begriffs „Anthropozän“sticht dieser Aspekt insofern hervor, als Homo sapiens zu einer den Planeten formenden Kraft erhoben wird.
Sogenannte Ökomodernisten wie Steven Pinker geben diesem Vorschlag eine optimistische Wendung: Dauerhaftes Wirtschaftswachstum ist demnach voll und ganz mit dem Kampf gegen den
Klimawandel vereinbar. Menschliche Bedürfnisse müssten sich bloß von natürlichen Ressourcensystemen „entkoppeln“, was wiederum durch richtungsweisende Erfindungen erreicht werden soll.
Die Debatte um Net-Zero-Ziele kann als Erweiterung dieses Ökomodernismus gedeutet werden, zumal die erforderliche Technologie von CO2-neutralisierenden Senkenprojekten noch in den Kinderschuhen steckt. Niemand weiß in Wahrheit, ob sich die bereits vorhandene Kapazität so ausbauen lässt, dass laufende Kohlenstoffemissionen in großem Ausmaß eingedämmt werden. Dies unterstreicht einmal mehr den techno-utopischen Einschlag des Ökomodernismus.
Einwände gegen den TechnoUtopismus gibt es zuhauf. Viele Kritiker haben ihr Unbehagen darüber zum Ausdruck gebracht, was der Publizist Evgeny Morozov „Solutionismus“nennt: die Annahme, dass jedes soziale Problem durch bahnbrechende Innovationen lösbar wäre. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel etwa gilt es zu bedenken, dass der Techno-Utopismus die tieferen Ursprünge des Anthropozäns vollkommen unberührt lässt. Unter anderem betrifft dies die Tatsache, dass sowohl der Kapitalismus als auch der Kolonialismus eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Menschheit als geologische Kraft gespielt haben.
Der Solutionismus trägt letzten Endes zur Fortführung des Business as usual bei und bahnt dadurch einen Weg in die Zukunft, den der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in seinem jüngsten Bericht als fatal bezeichnet. Während Net-Zero-Ziele auf den ersten Blick revolutionär erscheinen, verschärfen sie also eventuell sogar die aktuelle Krise.
Folgt daraus, dass Wissenschaft und Technologie keinerlei Wert für unsere Welt im Klimawandel besitzen? Selbstverständlich nicht. Die Kritik am Solutionismus zielt lediglich auf den Irrglauben ab, dass Wissen
schaft und Technologie Herausforderungen in Angriff nehmen könnten, die im Wesentlichen soziale Ursachen haben. Für diese braucht es soziale Lösungen, die letztlich vom Volk zu legitimieren sind. Der Solutionismus versucht, demokratische Politik durch eine fehlgeleitete Zuversicht in Wissenschaft und Technologie zu ersetzen.
Trotzdem sollte ein Aspekt des Ökomodernismus positiv bewertet werden: seine utopische Orientierung. Manche missverstehen das Wesen des Utopismus, wenn sie ihn ausschließlich mit einer Flucht vor der Realität in Verbindung bringen. Manche Utopien erfüllen eine kritische Funktion, die gerade jetzt dringend vonnöten ist, nämlich den Status quo zu hinterfragen und radikale Alternativen zu erproben. Das Problematische am Ökomodernismus ist also nicht, dass er optimistische Visionen einer besseren Welt formuliert, sondern, dass es seiner utopischen Methode an Realismus mangelt, weil Umweltfragen von sozialen Prozessen abgesondert werden.
Suche nach „kleinen Utopien“
In seinem Buch über Friedensinitiativen im 20. Jahrhundert verwendet der Historiker Jay Winter den Ausdruck „kleine Utopien“für Projekte, die eine teilweise statt einer umfassenden Erneuerung der Welt anstreben. Diese sind utopisch, sofern sie die gegenwärtige Ordnung ablehnen, aber sie verzichten darauf, Pläne für eine globale Transformation zu skizzieren. Es mag paradox erscheinen, nach derartigen „kleinen Utopien“zu suchen, wenn man sich mit einem Problem konfrontiert sieht, das den ganzen Planeten umspannt. Zweifellos müssen Reaktionen auf den Klimawandel koordiniert werden, um Effizienz zu steigern und aus Fehlern zu lernen. Aber das bedeutet nicht, dass wir allein jenen Initiativen Vertrauen schenken sollten, die von oben gesetzt werden. „Kleine Utopien“haben den Vorteil, Widerstandsformen auf lokaler Ebene so zu vernetzen, dass die Vorstellung einer besseren Welt realisierbar wird. Die Frage, wie man von einem unhaltbaren Status quo zu einer gewünschten Alternative übergeht, vereint diese Projekte: nicht die Vorgabe eines perfekten Endpunkts der Geschichte, sondern die praktische Infragestellung der gegenwärtigen Ordnung.
Hier ist ein Beispiel: Sogenannte Degrowthers wollen uns vom Paradigma befreien, demzufolge menschlicher Fortschritt strukturell von Wirtschaftswachstum abhängig sei. „Degrowth“läuft somit auf ein utopisches Programm hinaus, das nicht nur unser Verhältnis zur Umwelt, sondern auch soziale Prozesse zu verändern beabsichtigt.
Öko-Dörfer etwa nehmen Formen der Arbeit, des Zusammenlebens und der Freizeit vorweg, die es im Mainstream noch nicht gibt. Dadurch simulieren sie, wie eine postkapitalistische Ordnung im Kleinen aussehen könnte. Solche praktischen Experimente existieren auf der ganzen Welt, vom Otamatea Eco-Village, einem winzigen Permakulturprojekt in Neuseeland, das sich um regionale Selbstversorgung bemüht, bis zur Findhorn Foundation, einer seit Langem etablierten Organisation in Schottland, die sich auf Spiritualität und Bildung konzentriert.
Indem sie konventionelle Normen unterlaufen, hoffen diese Gemeinschaften, das öffentliche Bewusstsein für radikale Alternativen zu schärfen. In diesem Sinn ist ihr Einfluss auf die Gesellschaft immer indirekt, aber dennoch von großer Bedeutung. Sich eine Welt vorzustellen und vorzuleben, in der permanentes Wirtschaftswachstum nicht fundamental ist, mag beunruhigend erscheinen. Doch diese Provokation erlaubt es, dass wir unsere Existenz auf einem vom Klimawandel betroffenen Planeten von Grund auf überdenken. Dieser Entfremdungseffekt macht den Kern aller Utopien aus. Das Experimentieren mit radikalen Alternativen kann somit auch neue Möglichkeiten für demokratische Politik ausloten.
Weltfremd oder nicht?
Um den Vorwurf zu widerlegen, dass Utopien nichts anderes als Wunschdenken seien, bedarf es praktischer Experimente. Präfiguration – also hier und jetzt so zu handeln, als ob eine bessere Welt bereits da wäre – ist daher zentral für unsere Antworten auf die ökologische Krise. Wir werden noch viele kleine und große Utopien brauchen, um die extremen Herausforderungen des Anthropozäns zu bewältigen.