Wenn die Göttinnen in den Weinbergen revoltieren
In einer Jurte auf einem sanften Hügel treffen im niederösterreichischen Pulkautal Forschung und Kunst auf das regionale Wissen von Bäuerinnen und Bauern. Im Zentrum steht die Sorge um den Boden.
Am Anfang war die Göttin. Genauer gesagt, die Venus von Willendorf und damit einer der berühmtesten archäologischen Funde der Welt. Die 1908 ausgegrabene Figur lässt uns heute 29.500 Jahre zurück ins Paläolithikum reisen und stellt uns vor eine Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Sie und weitere Frauenstatuetten aus der Alt- und der Jungsteinzeit, die in Niederösterreich entdeckt wurden, sind metaphorischer Ausgangspunkt eines ungewöhnlichen Forschungsprojektes, in dem kulturgeschichtliche und künstlerische Ansätze auf ökologische Herausforderungen treffen. „The dissident Goddesses‘ Network“, lautet der Titel. Das Netzwerk der andersdenkenden, der widerständigen Göttinnen also. „Wir setzen den Göttinnenbegriff absichtlich provokant ein. Er verweist auf eine Ordnung der Mutter, von der wir annehmen, dass sie einst existierte“, sagt die Künstlerin Elisabeth von Samsonow vom Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien. „Das ist aber sehr spekulativ.“Sie lacht. „Es geht natürlich nicht darum, das Matriarchat einzuführen.“Die prähistorischen Figuren sollen jedoch „mütterliche“Werte wie Fürsorge als Klebkraft von Gesellschaften im Gegensatz zu Macht ins Spiel bringen – und zwar mit Bezug auf den konkreten Ort, das Weinviertel mit seinen fruchtbaren Lössböden. Diesen Böden, an denen die ökologische Krise durch den Klimawandel erschreckend sichtbar werde, müsse unsere Sorge heute mehr den je gelten, betont Smasonow.
Der Gesprächspartnerin Erde zuhören
Ein Ziel des Göttinnenprojekts ist es unter anderem, den niederösterreichischen Fundbestand paläo- und neolithischer weiblicher Figuren stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rufen und ihre identitätsstiftende Funktion gezielt einzusetzen. Die Frauen in den ländlichen Regionen, wo traditionelle Geschlechterrollen immer noch tief verankert sind, sollen durch die in ihrer Heimat gefundenen steinzeitlichen Frauenstatuetten zu einem neuem Selbstverständnis und Selbstbewusstsein gelangen – auch in Bezug auf ihre Rolle für die Sicherung von ökologischer Nachhaltigkeit und Biodiversität.
Samsonow leitet das vom Land Niederösterreich geförderte Projekt gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Felicitas Thun-Hohenstein (Akademie der bildenden Künste Wien). Seit 2018 bearbeiten sie und ihr neunköpfiges Kernteam aus Kunst und Forschung – Archäologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Geologie – die Thematik, seit vergangenem Jahr legen sie auch selbst Hand an. Ein mit dem Projekt verbundenes Kollektiv bewirtschaftet ein vier Hektar großes Landstück im Pulkautal, eine Art experimentelle Forschungsstation. Hier werden Pflanzen gesetzt, unterirdische Wasseradern kartografiert, Kontakte zur Bevölkerung – allen voran Landwirten und Jägern – geknüpft und Wissensbestände ausgetauscht. Zentrum ist eine mongolische Jurte, an deren Stelle sich im Paläolithikum eine Art Jagdstation befunden hat. „Wir beschäftigen uns mit einer lokal verankerten Fragestellung, die aber global zu denken ist“, erklärt Thun-Hohenstein.
Die Kunsthistorikerin Romana Schuler interviewte im Zuge des Projekts Niederösterreicherinnen und steuerte damit eine zeitgemäße Sicht auf das Leben von Frauen in ländlichen Strukturen bei. Der Kulturtheoretiker und Filmemacher Ebadur Rahman
(University of California, Santa Cruz, USA) ergänzte die Diskussion zur Bedeutung prähistorischer Frauenstatuetten um Überlegungen zu den (Mutter-)Göttinnen Südasiens als wichtige Kräfte der Dekolonialisierung und Modernisierung.
Sich auf das alte Erbe rückbesinnen
Spannende Anknüpfungspunkte brachte die filmische Forschungsarbeit der Video- und Installationskünstlerin Angela Melitopoulos über die Ausdrucksformen und Funktionen der Erdoberfläche. Sie beschäftigte sich mit dem Wissen, das in die Landschaft eingebettet liegt – in Niederösterreich genauso wie in Australien. Die indigenen Gesellschaften Australiens pflegen seit mindestens 60.000 Jahren ihre eng mit dem Land verwobene Kultur. Sie verstehen Menschen als integralen Bestandteil der Natur und kennen so etwas wie Landbesitz nicht. In unseren Breiten erinnern lediglich Funde wie die Venus von Willendorf an eine derart weit zurückliegende vergangene Kultur. „Hier besitzen die Landwirte und Landwirtinnen, die Weinbäuerinnen und -bauern den Boden, sind aber oft davon entfremdet“, konstatiert Samsonow. Das habe auch strukturelle
Gründe, kleine Landwirtschaften gehen zugrunde, Großgrundbesitzer und Agrarkonzerne werden gefördert. Es dominiert eine technisch-wissenschaftliche Interpretation der Erde durch Satellitendaten. Doch der Körper, so Melitopoulos‘ These, ist für die Wissensproduktion zwischen Erde und Mensch wesentlich und ein kompetentes Werkzeug.
„Die Erde ist im Projekt stets unser Ausgangspunkt. Sie ist der Bezugspunkt von mehreren Disziplinen“, sagt Samsonow. „Und auch die Herausbildung verschiedener Kulturen folgt der Bodenbeschaffenheit.“Durch die Überbewirtschaftung sind die Weinviertler Böden ausgelaugt, der Verlust der Biodiversität darin massiv. Hinzu kommt, dass Starkregenereignisse ihnen zusetzen (siehe Lexikon). Sie brauchten dringend eine Regenerationspause. „Aber ich sehe nicht, dass die Politik darauf eingeht und da agitieren wir – auch künstlerisch-aktivistisch. Wir bringen akademische Expertise mit der Expertise der lokalen Bevölkerung zusammen.“Samsonow ortet die eklatante Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis. Diese gehöre dringend überbrückt: „Es hat sich gezeigt, dass der Ankauf des Stück Landes in der Region auch dafür sehr wichtig war.“Das Projekt sei ein „hoch notwendiges Experiment“gewesen, stimmt ihr Felicitas Thun-Hohenstein zu. „Das verortete Wissen der vielen konnte so in unsere
Wir setzen den Göttinnenbegriff angesichts der ökologischen Krise provokant ein, um auf das Fehlen von ,mütterlichen‘ Werten hinzuweisen.
Forschungsergebnisse einfließen.“Ein Bild davon kann man sich derzeit in der von ihr kuratierten Ausstellung „Die Erde lesen“in der Landesgalerie Niederösterreich in Krems machen, die noch bis 1. Mai läuft.
„Unser Modell kommt im globalen Geschehen auch an anderen Orten vor. Man forscht an einem Stück Land, um Modelle für die Zukunft zu finden – Modelle für Gemeinsamkeit, ökologische und Agrikulturmodelle, die unter einer feministischen Linse einen neuen Blick auf die Moderne werfen“, so Thun-Hohenstein. Sie verweist auf das Mustarinda-Kollektiv, das in den Wäldern im Norden von Finnland ebenfalls versucht, durch die Verbindung von Forschung und Kunst, einen ökologischen Umbau der Gesellschaft und die Vielfalt von Kultur und Natur zu fördern. In Zukunft gelte es, sich untereinander noch stärker zu vernetzen. Samsonow: „Wir hier im Pulkautal sind nur ein Punkt, aber viele Punkte machen irgendwann eine Fläche.“