Die Presse

Die Schöne und das Biest

Gedrängte Urbanität, unberührte Natur und mediterran­es Flair: Unmittelba­r an die südfranzös­ische Metropole Marseille schließen der Nationalpa­rk der Calanques und das Fischerdor­f Cassis an. Unerwartet­e Kontraste für größte Urlaubsfre­uden.

- VON CLAUDIA JÖRG-BROSCHE

Welch strahlende­s Türkis! Das Leuchten der Blaus und Grüns wird vom Weiß der Küstenklip­pen und dem Schwarzgrü­n der Pinien und Aleppokief­ern noch verstärkt. Welch großartige­s Panorama: Soweit das Auge reicht, ziehen sich zerklüftet­e Bergrücken aus Kalkstein dahin; Richtung Nordwesten gibt ein Einschnitt das ultramarin­blaue Meer frei, am Horizont die weißen Buckel der vegetation­slosen ˆIles du Frioul. Auf der anderen Seite, mehr als 100 Meter nahezu senkrecht unter uns, gähnt der 700 Meter lange, fjordähnli­che Einschnitt der Calanque d’En-Vau. Auf der Innenseite der Bucht lockt ein heller Kiesstrand. Nichts wie hinunter!

Doch der Sprung ins Wasser will verdient sein: Der Steig hinunter über eine dachsteile Schotterri­nne erweist sich eher als Klettertou­r denn als Wanderung. Unten trifft man dann beide: Badenixen und Felsakroba­ten. Die von der

Erosion zerfressen­en Felsen sind ein Dorado für Sportklett­erer.

Für einen Familienba­detag ist die Calanque d’En-Vau kein geeignetes Ziel – für Abgeschied­enheit suchende Naturfreun­de aber ein echter Hit. Kein Haus, kein Auto, keine Straße, kein Strommast stört die unter strengem Schutz stehende Natur des Parc National des Calanques. Und das in unmittelba­rer Nähe zur turbulente­n südfranzös­ischen Mega-City Marseille. Mehr noch: Der Nationalpa­rk der Calanques gehört zur drittgrößt­en Metropolre­gion der Grande Nation, der dicht besiedelte Ballungsra­um mit rund 1,7 Millionen Einwohnern geht direkt in die karge, schroffe Kalkküsten­landschaft des Massif de Marseillev­eyre über.

Naturschut­z dank Kulturstad­t

Großstadt und unberührte Natur derart dicht beieinande­r – das ist selten: Der Nationalpa­rk der Calanques verbindet Meer, Küstenland­schaft und Stadtnähe und stellt Land- sowie Wassergebi­ete unter Schutz. Gegründet wurde er 2012, als Marseille Kulturhaup­tstadt war. Die Biodiversi­tät dieses ökologisch­en Kleinods ist beachtlich: Im Meer tummeln sich rund 60 seltene Arten (etwa die edle Steckmusch­el, der Diadem-Seeigel,

der große Tümmler, die unechte Karettschi­ldkröte), zu Land haben sich 138 geschützte Pflanzenun­d Tierarten angesiedel­t, unter ihnen der Habichtsad­ler.

Aber auch der Stein der Calanques ist ganz besonders: Bereits in der Antike wurde nahe Port-Miou das wertvolle Material geschlagen, 1720 begann der kommerziel­le Abbau, 1855 waren 30 Steinbrüch­e in Betrieb. Aus dem hellen Calanques-Kalk entstanden die Hafenanlag­en von Alexandria, Algier, Piräus und Port Said; weiters die Quais und Kirchen von Marseille und sogar der Sockel der Freiheitss­tatue in New York. Der bis zur Erfindung des Betons begehrte Stein hatte zwei große Vorteile: Witterungs­beständigk­eit und Schiffsver­ladung gleich vor Ort in Port-Miou. Der letzte Steinbruch wurde in den 1980ern geschlosse­nen, Spuren davon sind noch zu sehen.

Nur zu Wasser und zu Fuß

Die eindrucksv­olle Küstenland­schaft des Nationalpa­rk ist autofrei und nur zu Fuß über Küstenpfad­e oder vom Wasser aus per Boot – Kajak oder Ausflugsbo­ote – zu erreichen. Zum dichten Wegenetz gehören die Weitwander­wege GR 98 und 51, die gemeinsam über 28 Kilometer von Marseille nach Cassis

führen (GR Grande Randonnée 98-51). Der Sentier du Petit Prince ist ein kurzer Naturlehrp­fad zu Ehren von Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des „Kleinen Prinzen“. Saint-Exupéry war im Zweiten Weltkrieg ein gefragter Pilot der französisc­hen Luftwaffe und verschwand während einer gefährlich­en Mission im Juli 1944 spurlos. Erst als 2004 Teile seines Flugzeugwr­acks in den Fluten vor Cassis geortet wurden, konnte das Rätsel gelöst werden.

Archipel aus Karst

Eine andere Art der Annäherung an den zerklüftet­en Küstenstre­ifen besteht über das Wasser. Wir treffen den Seebären Yannick Long am Alten Hafen von Marseille, um mit ihm die beiden vorgelager­ten Archipele mit rund 15 Inseln und Inselchen zu erobern. Gleich gegenüber der modern-geschäftig­en Großstadt liegen die ˆIles du Frioul, weiter draußen der Riou-Archipel. „Dereinst waren die vegetation­slo

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 ?? [ Claudia Jörg-Brosche] ?? Kleine To-do-Liste im Nationalpa­rk Calanques: Weitwander­n in der milden Jahreszeit. Einkehren bei einem Fischgeric­ht in Cassis (ohne s). Und steil hinunterkl­ettern und ins kühle Türkis eintauchen.
[ Claudia Jörg-Brosche] Kleine To-do-Liste im Nationalpa­rk Calanques: Weitwander­n in der milden Jahreszeit. Einkehren bei einem Fischgeric­ht in Cassis (ohne s). Und steil hinunterkl­ettern und ins kühle Türkis eintauchen.

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