Die Schöne und das Biest
Gedrängte Urbanität, unberührte Natur und mediterranes Flair: Unmittelbar an die südfranzösische Metropole Marseille schließen der Nationalpark der Calanques und das Fischerdorf Cassis an. Unerwartete Kontraste für größte Urlaubsfreuden.
Welch strahlendes Türkis! Das Leuchten der Blaus und Grüns wird vom Weiß der Küstenklippen und dem Schwarzgrün der Pinien und Aleppokiefern noch verstärkt. Welch großartiges Panorama: Soweit das Auge reicht, ziehen sich zerklüftete Bergrücken aus Kalkstein dahin; Richtung Nordwesten gibt ein Einschnitt das ultramarinblaue Meer frei, am Horizont die weißen Buckel der vegetationslosen ˆIles du Frioul. Auf der anderen Seite, mehr als 100 Meter nahezu senkrecht unter uns, gähnt der 700 Meter lange, fjordähnliche Einschnitt der Calanque d’En-Vau. Auf der Innenseite der Bucht lockt ein heller Kiesstrand. Nichts wie hinunter!
Doch der Sprung ins Wasser will verdient sein: Der Steig hinunter über eine dachsteile Schotterrinne erweist sich eher als Klettertour denn als Wanderung. Unten trifft man dann beide: Badenixen und Felsakrobaten. Die von der
Erosion zerfressenen Felsen sind ein Dorado für Sportkletterer.
Für einen Familienbadetag ist die Calanque d’En-Vau kein geeignetes Ziel – für Abgeschiedenheit suchende Naturfreunde aber ein echter Hit. Kein Haus, kein Auto, keine Straße, kein Strommast stört die unter strengem Schutz stehende Natur des Parc National des Calanques. Und das in unmittelbarer Nähe zur turbulenten südfranzösischen Mega-City Marseille. Mehr noch: Der Nationalpark der Calanques gehört zur drittgrößten Metropolregion der Grande Nation, der dicht besiedelte Ballungsraum mit rund 1,7 Millionen Einwohnern geht direkt in die karge, schroffe Kalkküstenlandschaft des Massif de Marseilleveyre über.
Naturschutz dank Kulturstadt
Großstadt und unberührte Natur derart dicht beieinander – das ist selten: Der Nationalpark der Calanques verbindet Meer, Küstenlandschaft und Stadtnähe und stellt Land- sowie Wassergebiete unter Schutz. Gegründet wurde er 2012, als Marseille Kulturhauptstadt war. Die Biodiversität dieses ökologischen Kleinods ist beachtlich: Im Meer tummeln sich rund 60 seltene Arten (etwa die edle Steckmuschel, der Diadem-Seeigel,
der große Tümmler, die unechte Karettschildkröte), zu Land haben sich 138 geschützte Pflanzenund Tierarten angesiedelt, unter ihnen der Habichtsadler.
Aber auch der Stein der Calanques ist ganz besonders: Bereits in der Antike wurde nahe Port-Miou das wertvolle Material geschlagen, 1720 begann der kommerzielle Abbau, 1855 waren 30 Steinbrüche in Betrieb. Aus dem hellen Calanques-Kalk entstanden die Hafenanlagen von Alexandria, Algier, Piräus und Port Said; weiters die Quais und Kirchen von Marseille und sogar der Sockel der Freiheitsstatue in New York. Der bis zur Erfindung des Betons begehrte Stein hatte zwei große Vorteile: Witterungsbeständigkeit und Schiffsverladung gleich vor Ort in Port-Miou. Der letzte Steinbruch wurde in den 1980ern geschlossenen, Spuren davon sind noch zu sehen.
Nur zu Wasser und zu Fuß
Die eindrucksvolle Küstenlandschaft des Nationalpark ist autofrei und nur zu Fuß über Küstenpfade oder vom Wasser aus per Boot – Kajak oder Ausflugsboote – zu erreichen. Zum dichten Wegenetz gehören die Weitwanderwege GR 98 und 51, die gemeinsam über 28 Kilometer von Marseille nach Cassis
führen (GR Grande Randonnée 98-51). Der Sentier du Petit Prince ist ein kurzer Naturlehrpfad zu Ehren von Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des „Kleinen Prinzen“. Saint-Exupéry war im Zweiten Weltkrieg ein gefragter Pilot der französischen Luftwaffe und verschwand während einer gefährlichen Mission im Juli 1944 spurlos. Erst als 2004 Teile seines Flugzeugwracks in den Fluten vor Cassis geortet wurden, konnte das Rätsel gelöst werden.
Archipel aus Karst
Eine andere Art der Annäherung an den zerklüfteten Küstenstreifen besteht über das Wasser. Wir treffen den Seebären Yannick Long am Alten Hafen von Marseille, um mit ihm die beiden vorgelagerten Archipele mit rund 15 Inseln und Inselchen zu erobern. Gleich gegenüber der modern-geschäftigen Großstadt liegen die ˆIles du Frioul, weiter draußen der Riou-Archipel. „Dereinst waren die vegetationslo