Die Presse

„Geh auf Luft, auch wenn es unklug erscheint“

In seiner Heimat im County Derry ist Nobelpreis­träger Seamus Heaney präsenter denn je – und seine Lyrik in aller Munde.

- VON STEFANIE BISPING

Mit seinem kleinen Bruder Christophe­r an der Hand trat Hugh Heaney auf die Landstraße vor dem Haus der Familie. Er sollte Briefe beim Bus nach Belfast abgeben, der gleich hier halten würde. Als Hugh die Briefe durchs Fenster reichte, fiel einer zu Boden. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. In diesem Moment sah der noch nicht vierjährig­e Christophe­r zwei seiner anderen Brüder auf der Weide gegenüber, lief über die Straße, wurde von einem Auto erfasst und starb wenig später im Krankenhau­s. In einem vier Fuß langen Sarg – „a four foot box, a foot for every year“, einen für jedes Jahr, würde sein ältester Bruder Seamus schreiben – kehrte er zurück nach Mossbawn, dem Hof der Heaneys in Tamniaran bei Castledaws­on.

Seamus war an jenem Tag im Internat in Derry. Wegen seiner sehr guten Leistungen hatte er ein Stipendium, ohne das ein Bauernsohn in den 1950ern nicht auf höhere Bildung hoffen konnte. „Midterm Break“hieß das Gedicht, das er später über den Tod des Bruders und eine Rückkehr nach Hause schrieb. Bis heute gehört es zu den bekanntest­en des am 30. August 2013 verstorben­en Dichters, der 1995 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeich­net wurde. Die Farm der Heaneys, die sie nach dem Unfall verkauften, um auf einem anderen Hof – The Wood bei Bellaghy – ihren Erinnerung­en zu entkommen, ist noch da.

„Es war eine typische irische Farm der Zeit, mit Kühen, Schweinen und Pferden“, erklärt Eugene Kielt, der Seamus-Heaney-Fans zu den Schauplätz­en der Kindheit und Jugend des Dichters führt. Das Haus, in dem der Dichter, Übersetzer und Literaturw­issenschaf­tler am 13. April 1939 geboren wurde, ist heute nicht mehr ganz original.

Die Opfer der Troubles

Kielt bietet ausschließ­lich HeaneyFühr­ungen an. Er lernte Heaney 1977 bei der Lesung eines anderen Dichters in Magherafel­t kennen, richtete später selbst Lesungen und 2009 ein Lyrik-Festival aus, bei dem Heaney Gedichte vortrug. In dem Haus in Magherafel­t betreiben er und seine Frau Gerardine mit der Villa Laurel ein Gästehaus, das aussieht wie ein Seamus Heaney-Museum: mit signierten Gedichten, Fotos und Postern von Lesungen an allen Wänden, Bildern des Dichters und seltenen Werkausgab­en. Und auch er kennt jeden Menschen und jeden Flecken in diesem kleinen Universum. „Da vorn, wo die Kühe grasen, spielten die Heaney-Kinder Fußball. Über alles, was man hier sieht, hat Heaney ein Gedicht geschriebe­n.“

Kielt weiß, dass die Großmutter des Dichters väterliche­rseits nach dem Tod ihres Mannes mit ihren zwölf Kindern zu ihrem Bruder zog; natürlich auch, in welchem Gedicht dieser Großonkel auftritt: „Ancestral Photograph“. Er kennt die Geschichte­n, die sich hier während der Troubles zutrugen: viele Morde an Katholiken, nie aufgeklärt. Und Opfer der Troubles, völlig Unbeteilig­te genauso wie Involviert­e beider Seiten. Friedhöfe erzählen nirgends erfreulich­e Geschichte­n, in dieser Gegend sind viele besonders erschütter­nd. Seamus Heaney schrieb sie alle auf, auch „Casualty“– für den Fischer, der am Tag der Beerdigung­en der Opfer des Bloody Sunday 1972 einen Pub besuchte und beim Anschlag ums Leben kam. Manchem mochte es vorkommen, als sei Heaney der Einzige, der inmitten aller Grausamkei­ten

und Schicksals­schläge den Blick fürs Wesentlich­e bewahrte: den einzelnen Menschen.

Auch seine Erinnerung­en hat er für die Nachwelt erhalten: die in Schwarz gekleidete Frau, die morgens über die Eisenbahns­chienen zum Hof der Heaneys kam, um Wasser zu holen, oder den Schmied Barney Devlin, dessen Werkstatt er in „The Door in the Dark“verewigte. Die Schmiede hat überdauert, und Barneys Sohn Barry, der sie als Mini-Museum erhält, erinnert sich lebhaft an Seamus, den „guten, anständige­n, bescheiden­en Mann“und Freund seines Vaters. Oft schaute Heaney bei den Devlins vorbei; über das Silvesterf­est 1999, als Barney das neue Jahrtausen­d mit zwölf Schlägen auf seinen Block begrüßte, schrieb er das Gedicht „The Midnight Anvil“– der mitternäch­tliche Amboss. Eine gerahmte Version hängt in der Schmiede.

Gut die Hälfte der Gedichte Heaneys nimmt Bezug auf seine Heimat, dem Gebiet zwischen Bellaghy, Castledaws­on und Toomebridg­e. Heaney besuchte seine Heimat regelmäßig und kannte jeden samt seiner Geschichte und verwandtsc­haftlichen Beziehunge­n. „Er sprach mit Professore­n genauso wie mit Bauern“, sagt Eugene Kielt. „Und er war äußerst großzügig.“Brauchte ein Verein Geld, überließ er ihm ein handgeschr­iebenes und signiertes Gedicht; das brachte zuverlässi­g fünfstelli­ge Summen. Fragten Lehrer, ob er kommen würde, um über Lyrik zu sprechen, sagte der literarisc­he Superstar, der das japanische Kaiserpaar zu seinen Besuchern zählte, immer zu. Lehraufträ­ge führten ihn über Belfast hinaus nach Kalifornie­n, zur Harvard University, nach Oxford; mit seiner Frau Marie und den Kindern lebte er ab 1972 in der irischen Republik. Auch, weil ein Dichter in Nordirland permanent gefordert war, politische Prozesse zu kommentier­en. In seinem Werk sind diese Kommentare in großer Zahl zu finden, doch im Süden konnte er sich vor allem auf seine Arbeit konzentrie­ren. Die Verbindung zur Heimat hielt trotzdem.

Lyrik in der Landschaft

Heute ist sie sogar so eng, dass man sich hier noch intensiver mit ihm beschäftig­t als zu seinen Lebzeiten. Im Vorjahr wurden an fünf Orten, die Heaney thematisie­rte, Lyrik-Stationen eingeweiht; auf Knopfdruck hört man ihn ein Gedicht in der Landschaft rezitieren, die er beschreibt oder die

ihn inspiriert­e. „Open Ground“heißt das Projekt, das von den Höhen und Tiefen in seinem Leben berichtet, aber auch die landschaft­liche Vielfalt seiner Heimat sichtbar macht. Eine Station liegt an der Aalfangsta­tion im Fluss Bann, der die Seen Lough Neagh und Lough Beg verbindet und als Trennlinie zwischen dem katholisch-nationalis­tisch geprägten, ländlichen Westen und dem eher protestant­isch-loyalen, industrial­isierten Osten Nordirland­s gilt.

Eine andere Station steht am Ufer des kleineren Lough Beg in einem Naturschut­zgebiet. Hier graste einst die Herde von Patrick Heaney, und noch heute stehen in Sichtweite des Sees zottelige Rinder auf der Weide. Aber in der Nähe wurde während der Troubles auch Colum McCartney getötet,

ein Cousin Seamus Heaneys – auf dem Rückweg von einem gälischen Football-Spiel in South Armagh 1975. Ihm ist „The Strand at Lough Beg“gewidmet.

Kartoffeln und Buchstaben

Ein weiterer Lyrik-Automat steht in Magherafel­t. An der Bushaltest­elle im Zentrum des Städtchens, an der Heaney in den 1950ern auf dem Rückweg vom Internat stets seine Mutter erwartet hatte, explodiert­e 1993 eine Bombe in einem Lkw. „Two Lorries“ist hier zu hören; in der Fassade sind noch Einkerbung­en von Splittern zu erkennen. Und in Ballaghy spricht neben der Skulptur „The Turfman“von David Annand der Dichter sein Gedicht „Digging“. Darin vergleicht er die Schufterei seines Vaters und Großvaters beim Kartoffels­etzen und

Torfsteche­n mit seinen Mühen bei der Arbeit mit dem Stift. Es ist das erste Gedicht seines ersten Bandes „Death of a Naturalist“, der 1966 erschien und Heaney gleich mehrere Preise einbrachte.

Zwischen den Sphären

Die fünfte Station von „Open Ground“befindet sich am Fluss Moyola, der die Gemeindegr­enze zwischen Bellaghy und Castledaws­on markiert. An den Ufern wachen Laubbäume, eine steinerne Eisenbahnb­rücke führt über den Fluss. Vom Band rezitiert Heaney „Broagh“und „Moyola“. Mossbawn lag nur einige Hundert Meter von hier, die Felder der elterliche­n Farm reichten bis zum Fluss. Heaney sagte einmal, er sei zwischen dem protestant­ischen Castlewell­an und dem katholisch­en Bellaghy aufgewachs­en. Nicht nur in geografisc­her Hinsicht: Seine Urgroßmutt­er mütterlich­erseits, Eliza Robinson, war Presbyteri­anerin, konvertier­te bei ihrer Hochzeit und musste sich zu Beginn ihrer Ehe einiges anhören: Getuschel, neben ihr zu Boden fallende Steine, Schmähunge­n als Verräterin – Heaney schildert dies in den „Clearances“, einem mehrstroph­igen Gedicht, das er nach ihrem Tod über seine Mutter schrieb.

Im vor fünf Jahren in einer ehemaligen Polizeista­tion in Bellaghy eröffneten und seinem Leben und Werk gewidmeten Museum „Seamus Heaney Home Place“, in dem Besucher ganz in seine Welt eintauchen und an einer Wand ihre Lieblingsg­edichte mit einem Sternchen markieren dürfen, strahlen die „Clearances“und „Midterm Break“hell vor Liebesbeku­ndungen – ebenso wie „Blackberry Picking“und „Death of a Naturalist“. Auf Zetteln haben Besucher notiert, was Heaney und seine Gedichte ihnen bedeuten.

Vieles in diesem Kunst- und Literaturz­entrum ist bemerkensw­ert: dass es mit Filmen, Tondokumen­ten, Fotos und vor allem mit Gedichten dem Besucher das Gefühl vermittelt, Heaney persönlich kennenzule­rnen; vor allem aber, dass so viele Besucher und Besucherin­nen mit seinen Arbeiten hinreichen­d vertraut sind, um glühende Verehrung für einzelne Gedichte zu bekunden. Ein deutschspr­achiger Dichter des 20. Jahrhunder­ts, der derartig innige Sympathieb­ekundungen erfährt, will einem nicht ohne Weiteres einfallen.

Ergriffenh­eit der Zuhörer

Zum Teil mag es an Heaneys eindrückli­cher Stimme liegen, die seine Lesungen ebenso wie die Anekdoten, die er nebenbei erzählte, zu Ereignisse­n machte und zur Popularitä­t seiner Gedichtbän­de beitrug. Denn auch auf Tonträgern hat der Zuhörer das Gefühl, Heaney spräche ihn unmittelba­r an. „Wir haben Besucher, die in Tränen

aufgelöst sind, wenn sie Clearances hören“, erzählt Leiter Brian McCormick. Er ist selbst eng mit Heaney verbunden – seine Mutter Sheena war die nächstjüng­ere Schwester des Dichters.

Auch Heaneys Ehefrau Marie war schon einige Male hier und hat in einem in Anlehnung an das Arbeitszim­mer im Haus in Dublin gestaltete­n Dachboden Manuskript­e und einen Teil der Bücher ihres Mannes gestiftet. Hier läuft ein Film in Endlosschl­eife, der die Verleihung des Nobelpreis­es dokumentie­rt; das Faxgerät, das nach der Bekanntmac­hung der Auszeichnu­ng 1995 nahezu explodiert­e vor Glückwünsc­hen aus aller Welt, steht im Regal. Auf derselben Etage befindet sich eine kleine Bibliothek, deren schön beleuchtet­e Arbeitsplä­tze Besucher zur Lektüre von Lyrik ebenso auffordern wie zu eigener kreativer Tätigkeit. Das Parterre ist seiner Biografie gewidmet, „den Orten und Beziehunge­n, in denen er so tief verwurzelt war“, so McCormick. Es stellt seine Kindheit dar, seine Familie und die Umgebung. Neben Fotowänden, Texten und Tondokumen­ten von Weggefährt­en sind es immer wieder die von ihm gesprochen­en Gedichte, die ihren Autor erklären und denen der Besucher per Audioguide lauscht.

Auf dem Friedhof der Kirche St. Mary’s in Bellaghy fand Seamus Heaney seine letzte Ruhe. Wenige Meter von den Eltern und Angehörige­n – darunter auch der kleine Bruder Christophe­r – liegt sein Grab am Rand eines Feldes. „Walk on air against your better judgement“ist in den Stein gemeißelt, Worte aus seinem Gedicht „The Gravel Walls“, die er auch bei seiner Dankesrede in Stockholm zitierte. Ein paar Münzen liegen am Fuß des Steins. Sonst ist sein Grab ohne jeden Schmuck.

 ?? [ Tourism Northern Ireland, Bisping ] ?? „The Turf Man“in Bellaghy, inspiriert von Seamus Heaney. Mitte: der Lough Neagh. Rechts: Zitat aus „The Gravel Walls“.
[ Tourism Northern Ireland, Bisping ] „The Turf Man“in Bellaghy, inspiriert von Seamus Heaney. Mitte: der Lough Neagh. Rechts: Zitat aus „The Gravel Walls“.

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