„Geh auf Luft, auch wenn es unklug erscheint“
In seiner Heimat im County Derry ist Nobelpreisträger Seamus Heaney präsenter denn je – und seine Lyrik in aller Munde.
Mit seinem kleinen Bruder Christopher an der Hand trat Hugh Heaney auf die Landstraße vor dem Haus der Familie. Er sollte Briefe beim Bus nach Belfast abgeben, der gleich hier halten würde. Als Hugh die Briefe durchs Fenster reichte, fiel einer zu Boden. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. In diesem Moment sah der noch nicht vierjährige Christopher zwei seiner anderen Brüder auf der Weide gegenüber, lief über die Straße, wurde von einem Auto erfasst und starb wenig später im Krankenhaus. In einem vier Fuß langen Sarg – „a four foot box, a foot for every year“, einen für jedes Jahr, würde sein ältester Bruder Seamus schreiben – kehrte er zurück nach Mossbawn, dem Hof der Heaneys in Tamniaran bei Castledawson.
Seamus war an jenem Tag im Internat in Derry. Wegen seiner sehr guten Leistungen hatte er ein Stipendium, ohne das ein Bauernsohn in den 1950ern nicht auf höhere Bildung hoffen konnte. „Midterm Break“hieß das Gedicht, das er später über den Tod des Bruders und eine Rückkehr nach Hause schrieb. Bis heute gehört es zu den bekanntesten des am 30. August 2013 verstorbenen Dichters, der 1995 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Die Farm der Heaneys, die sie nach dem Unfall verkauften, um auf einem anderen Hof – The Wood bei Bellaghy – ihren Erinnerungen zu entkommen, ist noch da.
„Es war eine typische irische Farm der Zeit, mit Kühen, Schweinen und Pferden“, erklärt Eugene Kielt, der Seamus-Heaney-Fans zu den Schauplätzen der Kindheit und Jugend des Dichters führt. Das Haus, in dem der Dichter, Übersetzer und Literaturwissenschaftler am 13. April 1939 geboren wurde, ist heute nicht mehr ganz original.
Die Opfer der Troubles
Kielt bietet ausschließlich HeaneyFührungen an. Er lernte Heaney 1977 bei der Lesung eines anderen Dichters in Magherafelt kennen, richtete später selbst Lesungen und 2009 ein Lyrik-Festival aus, bei dem Heaney Gedichte vortrug. In dem Haus in Magherafelt betreiben er und seine Frau Gerardine mit der Villa Laurel ein Gästehaus, das aussieht wie ein Seamus Heaney-Museum: mit signierten Gedichten, Fotos und Postern von Lesungen an allen Wänden, Bildern des Dichters und seltenen Werkausgaben. Und auch er kennt jeden Menschen und jeden Flecken in diesem kleinen Universum. „Da vorn, wo die Kühe grasen, spielten die Heaney-Kinder Fußball. Über alles, was man hier sieht, hat Heaney ein Gedicht geschrieben.“
Kielt weiß, dass die Großmutter des Dichters väterlicherseits nach dem Tod ihres Mannes mit ihren zwölf Kindern zu ihrem Bruder zog; natürlich auch, in welchem Gedicht dieser Großonkel auftritt: „Ancestral Photograph“. Er kennt die Geschichten, die sich hier während der Troubles zutrugen: viele Morde an Katholiken, nie aufgeklärt. Und Opfer der Troubles, völlig Unbeteiligte genauso wie Involvierte beider Seiten. Friedhöfe erzählen nirgends erfreuliche Geschichten, in dieser Gegend sind viele besonders erschütternd. Seamus Heaney schrieb sie alle auf, auch „Casualty“– für den Fischer, der am Tag der Beerdigungen der Opfer des Bloody Sunday 1972 einen Pub besuchte und beim Anschlag ums Leben kam. Manchem mochte es vorkommen, als sei Heaney der Einzige, der inmitten aller Grausamkeiten
und Schicksalsschläge den Blick fürs Wesentliche bewahrte: den einzelnen Menschen.
Auch seine Erinnerungen hat er für die Nachwelt erhalten: die in Schwarz gekleidete Frau, die morgens über die Eisenbahnschienen zum Hof der Heaneys kam, um Wasser zu holen, oder den Schmied Barney Devlin, dessen Werkstatt er in „The Door in the Dark“verewigte. Die Schmiede hat überdauert, und Barneys Sohn Barry, der sie als Mini-Museum erhält, erinnert sich lebhaft an Seamus, den „guten, anständigen, bescheidenen Mann“und Freund seines Vaters. Oft schaute Heaney bei den Devlins vorbei; über das Silvesterfest 1999, als Barney das neue Jahrtausend mit zwölf Schlägen auf seinen Block begrüßte, schrieb er das Gedicht „The Midnight Anvil“– der mitternächtliche Amboss. Eine gerahmte Version hängt in der Schmiede.
Gut die Hälfte der Gedichte Heaneys nimmt Bezug auf seine Heimat, dem Gebiet zwischen Bellaghy, Castledawson und Toomebridge. Heaney besuchte seine Heimat regelmäßig und kannte jeden samt seiner Geschichte und verwandtschaftlichen Beziehungen. „Er sprach mit Professoren genauso wie mit Bauern“, sagt Eugene Kielt. „Und er war äußerst großzügig.“Brauchte ein Verein Geld, überließ er ihm ein handgeschriebenes und signiertes Gedicht; das brachte zuverlässig fünfstellige Summen. Fragten Lehrer, ob er kommen würde, um über Lyrik zu sprechen, sagte der literarische Superstar, der das japanische Kaiserpaar zu seinen Besuchern zählte, immer zu. Lehraufträge führten ihn über Belfast hinaus nach Kalifornien, zur Harvard University, nach Oxford; mit seiner Frau Marie und den Kindern lebte er ab 1972 in der irischen Republik. Auch, weil ein Dichter in Nordirland permanent gefordert war, politische Prozesse zu kommentieren. In seinem Werk sind diese Kommentare in großer Zahl zu finden, doch im Süden konnte er sich vor allem auf seine Arbeit konzentrieren. Die Verbindung zur Heimat hielt trotzdem.
Lyrik in der Landschaft
Heute ist sie sogar so eng, dass man sich hier noch intensiver mit ihm beschäftigt als zu seinen Lebzeiten. Im Vorjahr wurden an fünf Orten, die Heaney thematisierte, Lyrik-Stationen eingeweiht; auf Knopfdruck hört man ihn ein Gedicht in der Landschaft rezitieren, die er beschreibt oder die
ihn inspirierte. „Open Ground“heißt das Projekt, das von den Höhen und Tiefen in seinem Leben berichtet, aber auch die landschaftliche Vielfalt seiner Heimat sichtbar macht. Eine Station liegt an der Aalfangstation im Fluss Bann, der die Seen Lough Neagh und Lough Beg verbindet und als Trennlinie zwischen dem katholisch-nationalistisch geprägten, ländlichen Westen und dem eher protestantisch-loyalen, industrialisierten Osten Nordirlands gilt.
Eine andere Station steht am Ufer des kleineren Lough Beg in einem Naturschutzgebiet. Hier graste einst die Herde von Patrick Heaney, und noch heute stehen in Sichtweite des Sees zottelige Rinder auf der Weide. Aber in der Nähe wurde während der Troubles auch Colum McCartney getötet,
ein Cousin Seamus Heaneys – auf dem Rückweg von einem gälischen Football-Spiel in South Armagh 1975. Ihm ist „The Strand at Lough Beg“gewidmet.
Kartoffeln und Buchstaben
Ein weiterer Lyrik-Automat steht in Magherafelt. An der Bushaltestelle im Zentrum des Städtchens, an der Heaney in den 1950ern auf dem Rückweg vom Internat stets seine Mutter erwartet hatte, explodierte 1993 eine Bombe in einem Lkw. „Two Lorries“ist hier zu hören; in der Fassade sind noch Einkerbungen von Splittern zu erkennen. Und in Ballaghy spricht neben der Skulptur „The Turfman“von David Annand der Dichter sein Gedicht „Digging“. Darin vergleicht er die Schufterei seines Vaters und Großvaters beim Kartoffelsetzen und
Torfstechen mit seinen Mühen bei der Arbeit mit dem Stift. Es ist das erste Gedicht seines ersten Bandes „Death of a Naturalist“, der 1966 erschien und Heaney gleich mehrere Preise einbrachte.
Zwischen den Sphären
Die fünfte Station von „Open Ground“befindet sich am Fluss Moyola, der die Gemeindegrenze zwischen Bellaghy und Castledawson markiert. An den Ufern wachen Laubbäume, eine steinerne Eisenbahnbrücke führt über den Fluss. Vom Band rezitiert Heaney „Broagh“und „Moyola“. Mossbawn lag nur einige Hundert Meter von hier, die Felder der elterlichen Farm reichten bis zum Fluss. Heaney sagte einmal, er sei zwischen dem protestantischen Castlewellan und dem katholischen Bellaghy aufgewachsen. Nicht nur in geografischer Hinsicht: Seine Urgroßmutter mütterlicherseits, Eliza Robinson, war Presbyterianerin, konvertierte bei ihrer Hochzeit und musste sich zu Beginn ihrer Ehe einiges anhören: Getuschel, neben ihr zu Boden fallende Steine, Schmähungen als Verräterin – Heaney schildert dies in den „Clearances“, einem mehrstrophigen Gedicht, das er nach ihrem Tod über seine Mutter schrieb.
Im vor fünf Jahren in einer ehemaligen Polizeistation in Bellaghy eröffneten und seinem Leben und Werk gewidmeten Museum „Seamus Heaney Home Place“, in dem Besucher ganz in seine Welt eintauchen und an einer Wand ihre Lieblingsgedichte mit einem Sternchen markieren dürfen, strahlen die „Clearances“und „Midterm Break“hell vor Liebesbekundungen – ebenso wie „Blackberry Picking“und „Death of a Naturalist“. Auf Zetteln haben Besucher notiert, was Heaney und seine Gedichte ihnen bedeuten.
Vieles in diesem Kunst- und Literaturzentrum ist bemerkenswert: dass es mit Filmen, Tondokumenten, Fotos und vor allem mit Gedichten dem Besucher das Gefühl vermittelt, Heaney persönlich kennenzulernen; vor allem aber, dass so viele Besucher und Besucherinnen mit seinen Arbeiten hinreichend vertraut sind, um glühende Verehrung für einzelne Gedichte zu bekunden. Ein deutschsprachiger Dichter des 20. Jahrhunderts, der derartig innige Sympathiebekundungen erfährt, will einem nicht ohne Weiteres einfallen.
Ergriffenheit der Zuhörer
Zum Teil mag es an Heaneys eindrücklicher Stimme liegen, die seine Lesungen ebenso wie die Anekdoten, die er nebenbei erzählte, zu Ereignissen machte und zur Popularität seiner Gedichtbände beitrug. Denn auch auf Tonträgern hat der Zuhörer das Gefühl, Heaney spräche ihn unmittelbar an. „Wir haben Besucher, die in Tränen
aufgelöst sind, wenn sie Clearances hören“, erzählt Leiter Brian McCormick. Er ist selbst eng mit Heaney verbunden – seine Mutter Sheena war die nächstjüngere Schwester des Dichters.
Auch Heaneys Ehefrau Marie war schon einige Male hier und hat in einem in Anlehnung an das Arbeitszimmer im Haus in Dublin gestalteten Dachboden Manuskripte und einen Teil der Bücher ihres Mannes gestiftet. Hier läuft ein Film in Endlosschleife, der die Verleihung des Nobelpreises dokumentiert; das Faxgerät, das nach der Bekanntmachung der Auszeichnung 1995 nahezu explodierte vor Glückwünschen aus aller Welt, steht im Regal. Auf derselben Etage befindet sich eine kleine Bibliothek, deren schön beleuchtete Arbeitsplätze Besucher zur Lektüre von Lyrik ebenso auffordern wie zu eigener kreativer Tätigkeit. Das Parterre ist seiner Biografie gewidmet, „den Orten und Beziehungen, in denen er so tief verwurzelt war“, so McCormick. Es stellt seine Kindheit dar, seine Familie und die Umgebung. Neben Fotowänden, Texten und Tondokumenten von Weggefährten sind es immer wieder die von ihm gesprochenen Gedichte, die ihren Autor erklären und denen der Besucher per Audioguide lauscht.
Auf dem Friedhof der Kirche St. Mary’s in Bellaghy fand Seamus Heaney seine letzte Ruhe. Wenige Meter von den Eltern und Angehörigen – darunter auch der kleine Bruder Christopher – liegt sein Grab am Rand eines Feldes. „Walk on air against your better judgement“ist in den Stein gemeißelt, Worte aus seinem Gedicht „The Gravel Walls“, die er auch bei seiner Dankesrede in Stockholm zitierte. Ein paar Münzen liegen am Fuß des Steins. Sonst ist sein Grab ohne jeden Schmuck.