Noch immer nicht kaputt
Im März des Jahres 1943 wurde die vierzehnjährige Njetotschka Wassiljewna Iljaschenko in ihrem Elternhaus in Dóbenka, einem ukrainischen Dorf am Ufer des Dnjepr, von Polizisten gefangen genommen und nach Kärnten zur Zwangsarbeit verschickt. Ein Bericht.
Wir haben Massengräber gesehen, verschimmelte Hände, ragend aus zugeschütteten Gruben, Oberschenkel an Drahtverhauen und abgetrennte Schädeldecken neben Latrinen. Wer aber weiß, wie Ruinen aussehen, die sich bewegen; Schutt, der sich rührt; Trümmer, die sich krümmen? Wer hat schon gehende Krankenhäuser gesehen, eine Völkerwanderung der Stümpfe, eine Prozession der Überreste?
Joseph Roth, „Reisen in die Ukraine und nach Russland“
Vom Sommer 1981 bis Herbst 1982 wohnte ich im Kärntner Bergdorf Mooswald, bei der Bauernfamilie Steiner, vulgo Niederstarzer. In Wien war ich zuvor monatelang verloren durch die Straßen geirrt oder hatte mich, unfähig zu schreiben, in der Wohnung verbarrikadiert im Gefühl, mich in die Abgeschiedenheit der Bergwelt zurückziehen zu müssen. Ich ging am Fuß des Mirnocks, im Bergbauerndorf Mooswald, das ich schon seit längerer Zeit kannte, von Haus zu Haus und fragte, ob ich eine Zeitlang ein Zimmer mit Vollpension beziehen könnte. Überall waren die Zimmer schon an Touristen vermietet, nur die gerade aus dem Stall kommende Valentina Steiner sagte, sie würde mich aufnehmen und dass ich bei ihr einziehen könnte. Man nannte sie die „Starzer Vale“. Ich wusste nur, dass sie eine gebürtige Ukrainerin war, mehr nicht.
Ein paar Wochen später zog ich mit meinem Kleiderkoffer und mit der keilförmigen, schwarzen elektrischen OlivettiSchreibmaschine auf ihrem Bauernhof ein. Sie teilte mir das Zimmer an der Ostseite des Hauses zu, in das sie als verschlepptes vierzehnjähriges Mädchen am 7. April 1943 um elf Uhr nachts nach einem langen Marsch über den Bergrücken einquartiert worden war. Das ist die „Menscherkammer“, sagte sie, in dieser Kammer haben immer die Mägde geschlafen. Während des Tages saß ich bei meiner Romanarbeit im Zimmer oder las im Roman „Fluß ohne Ufer“von Hans Henny Jahnn, kam zum Mittagessen in die Bauernküche, arbeitete danach weiter und erschien erst am Abend wieder zur Jause. Die Starzer Vale erledigte in der Küche den Haushalt und schaute nebenbei fern. Ihr Mann, der Bauer, lag dann bereits schlafend auf dem Diwan. Gemeinsam saßen wir vor dem Fernseher, als der schwedische König den Literaturnobelpreis an Elias Canetti überreichte. Sie erzählte mir, dass sie, als sie schon gut Deutsch sprechen konnte, zweimal den Roman „Effi Briest“von Theodor Fontane gelesen habe. Das Buch verbarg sie jahrzehntelang in ihrem Schminktisch. Außerdem habe sie in ihrem Heimatdorf Dóbenka die Märchen der Gebrüder Grimm auf Ukrainisch gelesen und die Gedichte des ukrainischen Volksdichters Taras Schewtschenko, Sohn eines Leibeigenen, der Anfang des 18. Jahrhunderts in der Nähe von Kiew geboren und 1861, wenige Jahre nach der Rückkehr aus der sibirischen Verbannung, gestorben war. Einige dieser Gedichte konnte sie auswendig: „Kuckucksrufen tönt herüber / Aus dem grünen Haine; / Und ein Mädchen weint im Stillen, / Ist so ganz alleine. / Meine jungen Mädchenjahre, / Jahre hell und heiter, / Wie die Blumen auf dem Wasser / Schwimmen sie ins Weite. / Hätt ich Vater noch und Mutter?“
„Manchmal“, schreibt Joseph Roth in der „Neuen Berliner Zeitung“1920, „wird eine Nation modern. Griechen und Polen und Russen waren es eine Zeitlang. Nun sind es die Ukrainer. – Die Ukrainer, von denen man bei uns und im übrigen Westen nicht viel mehr weiß, als dass sie irgendwo zwischen Kaukasus und Karpathen wohnen, in einem Land, das Steppen und Sümpfe hat, dass die ukrainische Etappe, wegen der erhöhten Etappenzulage, eine verhältnismäßig angenehme war. Außerdem hat man die höchst unbestimmte Vorstellung von einem ,ukrainischen Brotfrieden‘ dank dem politischen Dilettantismus eines österreichischen Kriegsdiplomaten.“
In dieser Zeit, über ein Dreivierteljahr, als ich an meinem Roman „Muttersprache“schrieb, erzählte mir Njetotschka abends immer wieder vom Leben ihrer Mutter, Hapka Davidovna Iljaschenko, von ihrer eigenen Kindheit und von ihrer Verschleppung.
Im März des Jahres 1943 wurden die vierzehnjährige Njetotschka Wassiljewna Iljaschenko und ihre achtzehnjährige Schwester, Lydia Wassiljewna Iljaschenko, in ihrem Elternhaus in Dóbenka, einem kleinen Dorf in der Ukraine, am Ufer des Dnjepr, in der Nähe von Tscherkassy, von Polizisten gefangen genommen. Um zwei Uhr morgens stieß ein Polizist seinen Gewehrlauf in Njetotschkas Brustkorbrippen. Mit anderen Leuten aus Dóbenka und aus der Umgebung wurden sie in einen Viehwaggon getrieben und nach Kärnten zur Zwangsarbeit verschickt. Sie fuhren über Tschornowai und Kiew. In Przemysl, wo sie sich eine Zeitlang in einem mit Stacheldraht umzäunten Lager aufhalten mussten und entlaust wurden, schlugen ein paar SSler mit Lederpeitschen die nackt nebeneinander stehenden, vor Schmerz und Angst schreienden Mädchen. Danach wurden sie wieder in den Viehwaggon gesteckt und weiter über Wien nach Kärnten transportiert. Am 7. April 1943 kamen sie nach einer fast vierwöchigen Fahrt mit der Eisenbahn in Villach am Bahnhof an.
„Im übrigen sind ,Ukrainer‘ eines jener Völker, von denen man nicht bestimmt sagen kann, ob sie nur Menschenfresser oder gar auch Analphabeten sind. Ihrer Abstammung nach sicher ,Russen und dergleichen‘, ihrem Glaubensbekenntnis nach urkatholische Heiden mit bartumwalltem Priestertum aus Gold, Myrrhen und Weihrauch.“Ich machte mir vorerst keine Notizen von ihren Erzählungen, ich hörte ihr Abend für Abend zu. Immer wieder machte sie mich darauf aufmerksam, dass sie mich ins Zimmer einquartiert hatte, in dem auch sie nach ihrer Verschleppung untergebracht worden war und jahrelang neben einer jungen Magd schlafen musste, die sie beim ersten Anblick für eine Hexe, für eine „Widma“, hielt, die einen großen Kropf und vor der sie große Angst hatte und die Vorstellung, von ihr eines Nachts mit Haut und Haar verspeist zu werden. Oft, so erzählte sie mir, stand sie vor dem östlichen Fenster dieser Menscherkammer, streckte sehnsüchtig ihre Hände aus und rief nach ihrer „Mati“in den Fichtenwald hinein. Da es im Haus keine Briefkuverts und auch keinen Klebstoff gab, schneiderte Njetotschka eines Tages aus einem Blatt Papier ein Kuvert, bestrich die Enden mit einem Ei, das sie im Stall aus einem Nest entwendet hatte, und schrieb ihrer Mutter einen Brief in die Ukraine.
Ausgespottet von den Saufbrüdern
Als ich meinen Roman „Muttersprache“beendet hatte, war das Frühjahr gekommen. Sie jätete im Garten das Unkraut, ich hockte mit einem Tonband neben ihr. Die Aufnahmen machten wir heimlich, da ihr Mann, der Bauer, der auch dem selbst gebrannten Schnaps zugeneigt war, diese ukrainischen Geschichten nicht hören, nichts davon wissen wollte. Er schämte sich, mit einer gebürtigen Ukrainerin verheiratet zu sein, wurde deshalb im Bergdorf aber auch oft genug gehänselt und ausgespottet von seinen Saufbrüdern. Ich blieb noch über den Sommer, half ihr Tag für Tag bei der Stall- und Feldarbeit, kehrte aber im Frühherbst des Jahres 1982 in mein bäuerliches Elternhaus, zu Vater und Mutter, zurück.
In meinem ehemaligen Kinderzimmer transkribierte ich die Tonbandaufnahmen und tippte sie an der schwarzen, elektronischen Olivetti auf Papier. Mit dem entstandenen Textmaterial ging ich wieder auf den Berg, nahm denselben Weg, den damals die vierzehnjährige Njetotschka und ihre Schwester nach ihrer Verschleppung in Kärnten in der Finsternis auf dem sogenannten Geißrücken bei Feistritz an der Drau hatten nehmen müssen, um ins Bergdorf zu gelangen, quartierte mich vierzehn Tage bei ihr ein und las ihr das Manuskript vor. Es konnten Missverständnisse aufgeklärt werden, verschiedene Geschichten wurden ergänzt, erweitert, die eine und andere Geschichte chronologisch in den von ihr als richtig erachteten Zusammenhang gestellt. Danach kehrte ich wieder in mein Elternhaus zurück. In dieser Zeit lernte ich in Villach den ukrainischen Pfarrer Georg Sidorenko kennen, der 1943 ebenfalls von
Die Aufnahmen machten wir heimlich, da ihr Mann, der Bauer, von diesen ukrainischen Geschichten nichts wissen wollte.
Hitlers Schergen verschleppt worden war. Er konnte die Ungeheuerlichkeiten der geschilderten Ereignisse bestätigen und ermutigte mich, das Manuskript zu veröffentlichen, für das er einige direkte Reden ins Ukrainische übersetzte.
„Die Ukrainer, die in Russland, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiss einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis.“
Bevor ich das Manuskript an den Suhrkamp Verlag schickte, besuchte ich die Starzer Vale noch einmal und fragte sie, ob es ihr denn tatsächlich recht sei, wenn ihre Geschichte und die Lebensgeschichte ihrer Mutter, Hapka Davidowna, in einem Buch in Deutschland veröffentlicht würden. Sie meinte: „Ja, es ist mein Wunsch! Es ist die Wahrheit!“Öfter sagte sie auch, dass sie sich nicht in den Vordergrund drängen möchte, dass es ihr aber Freude machen würde, wenn das Leben ihrer verehrten Mutter auf diese Art und Weise „aufbewahrt“werden könnte.
Zu Weihnachten des Jahres 1983 brachte ich der Starzer Vale das Buch „Die Verschleppung“, eingepackt in Weihnachtspapier. Wir legten es in kindlicher Freude unter den Christbaum. Sie wusste, dass nun die Lebensgeschichte ihrer stolzen Mutter Hapka Davidowna, ihre eigene Kindheit in Dó benka, am Ufer des Dnjepr, und ihre Verschleppung nach Kärnten in einer „Schrift“, wie sie es nannte, aufgehoben waren. Durch Veröffentlichungen in der „Kleine Zeitung“wurde diese Geschichte aber auch auf die Kärntner Bergbauernhöfe hinaufgetragen. Die Bauern in der Umgebung verstanden nicht, warum Tag für Tag in der Zeitung von dieser Frau, von der ehemaligen Ukrainerin, die doch, so die Bauern, froh sein konnte, hier Unterschlupf gefunden zu haben, die Rede war.
Da im Buch „Die Verschleppung“auch das erste Jahr, in dem die vierzehnjährige, verängstigte Njetotschka in dieser fremden, für sie anfangs dämonischen Welt, fern von ihrer „Mati“in der Ukraine, auf dem Kärntner Bergbauernhof in Mooswald sich einleben musste und auch unerfreuliche Ereignisse im Dorf geschildert wurden, wandten sich die Bauern von Mooswald und Fresach beleidigt von ihrer dörflichen Mitbewohnerin
ab. Einmal, als ich ihre Lebensgeschichte noch gar nicht aufgeschrieben hatte, kam ein einarmiger Mann zu Besuch. Sie erzählte mir, dass er es war, ein ehemaliger SSler, der damals, als sie erst wenige Tage auf dem Kärntner Bauernhof wohnte und auf einem Acker vor einen Pflug gespannte Ochsen führen musste, mit einer Peitsche auf sie losgegangen war. Sie bewirtete den Einarmigen mit einem Krügel Most und mit einer Speckjause.
Diese im Dorf und in der Umgebung beliebte und gesellige Frau war in anderen Häusern, als ihre Geschichte Tag für Tag in der Zeitung stand, nicht mehr willkommen, wurde von den anderen Dorfbewohnern auch nicht mehr besucht. Ihr Mann warf ihr oft vor, dass sie ihre Geschichte weitererzählte und damit ihr ganzes Familienleben im Dorf durcheinanderbrächte, und weil es nun auch schwarz auf weiß in der Zeitung stand, dass er mit keiner Kärntnerin, sondern mit einer Russin verheiratet war. „Sogar die Bettler vor der Kirche steckten in scharf konturierten Lumpen aus einem selbstverständlichen Braun, und die Krüppel, denen Beine und Arme fehlten, waren nicht wie Verstümmelte, sondern in ihrer Mangelhaftigkeit Vollkommene.“
Als ich sie besuchte, hatte sie eingefallene Wangen, war kreidebleich und machte auf mich einen unglücklichen Eindruck. Ihre ersten Worte waren: „Ich lebe in einem Leichentuch! Niemand mehr möchte mit mir etwas zu tun haben. Ich war beliebt und überall willkommen, jahrzehntelang war ich die ,Starzer Vale‘ – und jetzt bin ich wieder die Russin!“Für das Buch „Die Verschleppung“hatte ich nicht ihren wirklichen Namen „Valentina“verwendet, ich hatte ihr den schönen Namen „Njetotschka“gegeben, den ich in einem Roman von Dostojewskij gefunden hatte. Sie sagte: „Du hast mir im Buch schon den richtigen Namen gegeben, nämlich ,Njetotschka‘! Njetotschka, das heißt so viel wie ,nichts‘! Jetzt bin ich wieder eine ,Nichts‘, wie damals, als man mich mit vierzehn Jahren aus der Ukraine hierher verschleppt hat. Jetzt bin ich wieder die Russenmenscher!“
„Auf den tiefen, dichten und dicken Strohdächern der niedrigen Hütten lag die Sonne wie in mehreren Schichten, ein Haufen aufgebetteter Sonne.“Geboren wurde Valentina Wassiljewna Iljaschenko 1928 im ukrainischen Dorf Dóbenka, am Ufer des
Dnjepr, in der Nähe von Tscherkassy. Gestorben ist sie im Jahre 2009 auf ihrem Bergbauernhof in Mooswald bei Fresach, in Kärnten als Valentina Steiner, vulgo Niederstarzer. Der Sohn des Bauern, Jakob Steiner, vulgo Niederstarzer, ehelichte zehn Jahre nach ihrer Verschleppung die ukrainische Magd Valentina Wassiljewna Iljaschenko. „Wenn der Jogl diese Russenmenscher heiratet, dann gehe ich nicht zur Hochzeit“, sagte seine Großmutter.
Schneeglöckchen auf dem Grab
Valentina Wassiljewna trat vom russischorthodoxen zum evangelischen Glauben über und nahm den Familiennamen ihres Mannes an. Von da an nannte man sie die „Starzer Vale“. Gemeinsam hatten sie vier Kinder.
Dieser Tage vor ihrem Grabstein auf dem evangelischen Friedhof in Fresach stehend und auf die vier auf dem Grab blühenden Schneeglöckchen schauend, fiel mir ein, dass sie mir öfter erzählt hatte, wie sie nach wenigen Monaten auf dem Bergbauernhof zur damaligen Bäuerin, die sie liebevoll aufgenommen hatte, gesagt habe: „Ich ein Jahr hier, dann ich gehn kaputt!“Nach einem Jahr, an ihrem fünfzehnten Geburtstag, sagte die Bäuerin, die von ihr „Mame“genannt wurde, zu ihr: „Siehst du, Vale, jetzt bist du schon ein Jahr hier und noch immer nicht kaputt!“Und einmal sagte sie lachend: „Und jetzt bin ich schon vierzig Jahre hier und immer noch nicht kaputt!“
„Wäre ich jetzt bei Ihnen, ich versuchte ein ukrainisches Lied vorzusingen. Diese Lieder sind die schönsten, die ich im Osten Europas gehört habe. Sie sind so einfache Äußerungen der Natur und des täglichen Lebens wie Gras auf einer Wiese und ein junges Mädchen, das eine Sichel trägt.“
„Ich war beliebt und überall willkommen, jahrzehntelang war ich die ,Starzer Vale‘ – jetzt bin ich wieder die Russin!“