Die Presse

Nachrichte­n aus Charkiw

Die Menschen strömen in den Supermarkt. Sie interessie­ren sich für Fleisch, Brot und Milch.

- Von Anna Kolomiitse­va

Einen ganzen Monat schon . . . Keiner hat erwartet, dass es so lange dauert. Es fühlt sich an wie ein wuchtiger, schwarzwei­ßer Traum, aus dem man nicht erwachen kann.

Wie sieht der Krieg jetzt aus? Er sieht aus wie die Frau mit dem Pelzmantel, der einmal das schickste Stück in ihrer Garderobe gewesen ist, ein Souvenir aus einem besseren Leben. Der Krieg sieht aus wie die alten Männer, die mit karierten Flanellhem­den, gestickten Mützen und Pantoffeln durch die Straßen und über Brücken gehen. Vorsicht, du solltest diese Männer nicht zu lange ansehen, sonst sprechen sie dich an. Sie warnen dich: vor der Polizei, vor dem Territoria­lheer, vor allen möglichen Dingen und Menschen. Aber der alte Mann selbst hat keine Angst: Er geht durch die staubige Stadt oder fährt auf einem alten Fahrrad.

Der Krieg sieht aus wie eine Prozession, die eine Allee überquert, ohne auf Verkehrsre­geln zu achten. Seit dem Kriegsausb­ruch arbeiten keine Ampeln, die U-Bahn ist nur zugänglich, um sich in Deckung zu bringen, die Züge fahren nicht. Die Menschen strömen in den Supermarkt. Sie interessie­ren sich vor allem für Fleisch, Wurst, Brot und Milch. Damenbinde­n sind Mangelware. Alle tragen große, schwere Taschen und FünfLiter-Plastikfla­schen. Alle schleppen immer irgendwas irgendwohi­n, der Staub weht vom Asphalt hoch in die Gesichter. Es gab in dieser Jahreszeit schon immer viel Staub auf den Straßen. Der Staub weht auf die Soldaten am Checkpoint, auf die Betonblöck­e und Panzersper­ren, dort, wo vor vier Wochen noch eine ganz normale Straße war.

Granaten nach Gehör erkennen

Der Krieg heißt nicht nur Angst. Irgendwie gewöhnt man sich mit der Zeit an die fliegenden Granaten; man unterschei­det nach Gehör, was gerade fliegt, in welchem Teil der Stadt, von uns weg oder auf uns zu. Nach einem Monat ist nicht mehr die Angst, es ist vor allem die Müdigkeit, die wir spüren. Jeder kann nur an die Basisdinge denken: Fleisch, Wasser und Brot. Ich kann aber nicht verhindern, dass ich auch an einen Cappuccino denke. Kaffee gibt es genug bei uns zu Hause, doch ich will einen Cappuccino mit Milchschau­m! In einem Becher, als Coffee to go.

Der Frühling steht vor der Tür, wir wollen raus! In dem Moment, als ich es laut sage: „Cappuccino“, stehen wir vor einer Kaffeestub­e. Ein langhaarig­er, junger Mann mit Bart begrüßt uns. Auf der Karte steht alles, was auch vor dem Krieg zu bestellen war: Cappuccino in unterschie­dlichen Größen, RAF-Kaffee, Filterkaff­ee und Flat-White-Kaffee. Alles wie früher. Es gibt sogar Kekse aus Kondensmil­ch. „Wieso sehen die so komisch aus, wie eine Muschel?“, fragt mein Freund. „Die Frau hat halt diese Form“, sagt der Mann hinter der Theke. Nach einer kleinen Pause: „Die nutzt sie einfach zum Backen.“Wir zerkugeln uns vor Lachen.

Das Erlebnis, wieder unter der Sonne zu stehen, frische Luft zu atmen und Kaffee zu trinken, ist einfach so menschlich, so natürlich und fühlt sich wie ein Segen an. Wir sehen einer Katze zu, die am Bäckerei-Kiosk eine Taube verfolgt.

 ?? ?? ANNA KOLOMIITSE­VA Die Übersetzer­in harrt mit ihrer Familie in Charkiw aus und berichtet an dieser Stelle jede Woche aus der von den Russen bedrohten Stadt. Ihre Texte werden von Bianca Kos bearbeitet, deren Roman „Das Mundstück“(Otto Müller Verlag) in Charkiw spielt. Anna Kolomiitse­va ist gerade dabei, den Roman ins Ukrainisch­e zu übertragen.
ANNA KOLOMIITSE­VA Die Übersetzer­in harrt mit ihrer Familie in Charkiw aus und berichtet an dieser Stelle jede Woche aus der von den Russen bedrohten Stadt. Ihre Texte werden von Bianca Kos bearbeitet, deren Roman „Das Mundstück“(Otto Müller Verlag) in Charkiw spielt. Anna Kolomiitse­va ist gerade dabei, den Roman ins Ukrainisch­e zu übertragen.

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