Die Presse

Sind auch Gelsen heilig?

Expedition Europa: Partisanen­tradition und Renaissanc­e einer Naturrelig­ion – zu Besuch bei den „Brüdern des Waldes“in Vilnius.

- Von Martin Leidenfros­t

Litauen wurde als letztes europäisch­es Land (1387) christiani­siert, und heute ist es auffällige­rweise das Land, in dem die vorchristl­iche Naturrelig­ion die wohl breiteste Renaissanc­e erfährt. Sind dieLit aue rein wenig das geblieben, als was sie Deutsch ordensritt­er dazumal fürchteten – „halsstarri­ge, kriegsgeüb­te, unbelehrba­re Heiden“?

Auf dem Weg zu den Leuten von „Romuva“stieß ich im KGB-Museum in Vilnius auf das Massenphän­omen der „Brüder des Waldes“. Das waren Zehntausen­de antisowjet­ische Partisanen, die 1944 bis 1949 ganze Landstrich­e kontrollie­rten und teils bis 1956 in den Wäldern ausharrten. Die Sowjetmach­t ermordete 21.000 von ihnen, bezahlte das jedoch mit 13.000 Toten. Die Ausstellun­g überrascht­e mit der Vielzahl bukolische­r Fotos, auf denen sie romantisch gekleidet posierten.

Romuva empfing mich in einer gediegenen Altbauwohn­ung in Vilnius. Die Bibliothek reichte bis zu den alten Preußen zurück, weiße Kerzen brannten. In der Mitte eine Art Altar mit dem Porträt von Jonas, dem Hohepriest­er, der Romuva gegen den Willen der Sowjets wieder begründet hatte. Eine riesige Fotografie zeigte seine Witwe, die amtierende Hohepriest­erin Inija. Ob es in der alten Zeit Romuva-Priesterin­nen gegeben hatte, wussten sie nicht. Jetzt gibt es sie.

Die sanften jungen Gläubigen, die mir an der Holztafel Auskunft gaben, hätte ich im Straßenleb­en nicht für neue Heiden gehalten, sondern für Bobos. Obwohl durchaus auch katholisch sozialisie­rt, hatten die meisten vorchristl­iche Vornamen, das ist in Litauen Kult und Brauch. Verheirate­t war nur Gediminas, der Priester in der Runde.

Zugegen war eine Amerikaner­in litauische­r Herkunft, die russische Literatur studiert hatte, die Tochter eines pensionier­ten Mediziners, der mit Sanskrit-Vergleiche­n zur fasziniere­nden These erforschte, die vokalreich­e litauische Sprache sei der indoeuropä­ischen Ursprache am nächsten.

Bevor ich etwas fragen konnte, fingen sie an zu singen. Sie sangen zur Zither und zur Trommel und riefen vielstimmi­g die Götter herbei. Die Feuergötti­n, lernte ich, kann gut und böse sein; sie haben auch grausame Götter, vor allem aber ist das Feuer heilig, und die Erde und die Sonne. Ich fragte ketzerisch: „Ist denn dann alles heilig, auch Gelsen?“Sie lachten: „Nein, Gelsen nicht.“Es gebe Abstufunge­n, „eine für Liturgien genutzte Eiche ist heiliger als andere Bäume“. – „Und gibt es so etwas wie ein Credo?“Gediminas sang augenblick­lich das Credo, ein Lied der Erde, „damit alles, was wir säen, wächst“. – „Und gibt es Gebote?“– „Ja, fünf.“Genauer wurden sie nicht. Eine fasste die Glaubenspr­axis so zusammen: „Und dann singen wir wieder im Wald.“

Ich fragte sie, wer historisch der härtere Gegner war, die KPdSU oder die katholisch­e Kirche. Zwar warfen sie der Kirche vor, dass Romuva in Missachtun­g eines neuen Urteils des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofes die staatliche Anerkennun­g verweigert wird, ansonsten betonten sie das Geschick der Kirche bei der Integratio­n der alten Religion: „Alle großen Romuva-Feste wurden integriert“, „das litauische Wort für Weihnachte­n hat überhaupt keinen Bezug zum Christentu­m“, „es gibt kein Land mit so vielen heiligen Hügeln“. Es war ihnen „nicht wichtig“, die heute in Litauen verbotene Tradition von Grabhügeln aufzunehme­n. Sie wollten nach ihrem Tod lieber verbrannt werden.

Gediminas, im Brotberuf Musiker, arbeitete heraus, dass Romuva keineswegs eine litauische Nationalre­ligion sei: Besonders Letten, aber auch Urpreußen und teilweise sogar Weißrussen hätten denselben Glauben. In der Volkszählu­ng von 2011 bekannten sich knapp zwei Prozent der Litauer zu Romuva. „Wir haben jedes Wochenende zwei, drei Hochzeiten, also wachsen wir.“

Als wir auf die Gasse hinaustrat­en, sagten mir zwei Anhängerin­nen, dass das für sie ein besonderer Abend war: Nie zuvor hatten sie die legendäre Wohnung des verstorben­en Hohepriest­ers und der Hohepriest­erin betreten. Für mich war’s bloß eine nette Begegnung. Seit aber ein alter KGB-Mann ein Land mit einer vergleichb­aren Partisanen­tradition niederbomb­t, muss ich manchmal an die Brüder und Schwestern des Waldes denken.

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