300 Karossen für die Prominenz
Europas neue Ordnung wurde monatelang auf dem Wiener Kongress verhandelt: Die Abgeordneten der einzelnen Länder hatten völlig unterschiedliche Anliegen, die sich nicht in wenigen Gesprächsrunden ausgleichen ließen.
An Wagemut mangelte es den Mitwirkenden beim Wiener Kongress beileibe nicht. Der eine Gesandte – seit Jahrzehnten zur Wiener Institution geworden – übereignet in einer großartigen Geste seinen weitläufigen Besitz auf der Landstraße seinem Landesherrn, Zar Alexander, just als das Palais von einem desaströsen Brand bis auf die Grundmauern zerstört wurde, und erhielt im Gegenzug dafür den Botschafterposten zurück. Vielleicht auch deswegen, weil es kein Geheimnis war, dass das prachtvolle Haus Rasumovskys mitsamt der eigens dafür gebauten Brücke über den Donaukanal in schier unerschöpflichen Darlehen vom Zarenhof finanziert worden war. Sein Ziel, für diesen Kongress noch einmal in die große Politik zurückzukehren, war erreicht. Gemeinsam mit Metternich erhielt er nach Abschluss der Verhandlungen am 3. Juni 1815 den Fürstentitel verliehen.
Talleyrand hingegen, dessen scharfes Gespür für Machtverhältnisse mehr gefürchtet als verachtet wurde, bewies bei Napoleons Rückkehr allen Unkenrufen zum Trotz größere Standfestigkeit als sein Arbeitgeber, Ludwig XVIII., der erneut umgehend die Flucht ergriff. Dem nunmehrigen Minister a. D. blieb von diesem Moment an (bis zur Rückkehr des Bourbonen) jeder weitere Kredit in Wien verwehrt. Finanziell eng wurde es auch für die viel geliebte Fürstin Bagration, den leuchtenden Stern des Kongresses, die man kurz nach der Abreise der gekrönten Häupter am 1. Juli 1815 ins Schuldgefängnis überstellte. Und Beethoven, bekannt als unbeugsamer Volkstribun, erlebte den vielleicht größten Erfolg seines Lebens ausgerechnet mit dem Schlachtengemälde op. 91 „Wellingtons Sieg“und der „Kantate vom Glorreichen Augenblick“des Dichters Aloys Weissenbach, die fröhlich den anwesenden gekrönten Häuptern huldigt.
So erstaunlich sich diese Entwicklungen auch ausnehmen mögen, die wundersamste Veränderung von allen war mit dem österreichischen Kaiser vor sich gegangen, der sich in diesen Monaten als überschwänglicher Gastgeber zeigte, obwohl allgemein bekannt war, wie bescheiden er normalerweise seine Haushaltung zu führen pflegte. Die schmerzhaften Niederlagen gegen Napoleon mitsamt dem Staatsbankrott von 1811 waren noch lange nicht überwunden. Gleichwohl war es seinem Staatskanzler Metternich in einem gewaltigen Husarenstück gelungen, ihn als Hausherrn für die europäischen Friedensverhandlungen zu gewinnen, auf die man sich kurz zuvor, im Mai 1814, in Paris geeinigt hatte. Niemand konnte ahnen, dass sich schließlich die Abrechnungen von Obersthofmeister und Oberststallmeisteramt nach Abschluss des Treffens im Mai 1815 auf rund acht Millionen Gulden belaufen würden.
Fast jeder, der im Herbst des Jahres 1814 in Wien verblieben war, war nicht mehr derselbe wie zuvor. 25 Jahre blutige Auseinandersetzungen, die Hunderttausende von Opfern gefordert hatten, waren vorausgegangen. Kaum ein Mensch, der nicht vom Elend und der Zerstörung der verschiedensten Kämpfe und Ideologien betroffen war. So sehr, dass im Februar 1815 der siebzigjährige Herzog Albert von Sachsen-Teschen nachdenklich sinnierte: „Die Städte sind zerstört, die Reiche umgeschmolzen“, das Einzige, was Bestand hätte, wären die militärischen Grundsätze – sie blieben immer dieselben. Und Varnhagen von Ense, dessen Bericht der Ereignisse einer der klarsten ist, will in dem neuen bürgerlichen Jahrhundert überhaupt nur noch militärische Feste sehen, weil die kirchlichen und höfischen endgültig ausgedient hätten. Das Militär war im Krieg die einzige Ordnung, aber jetzt erkannten auch diese Institutionen, dass es keine Alternative zum Frieden mehr gab.
Mit höchst bedenklichen Umwegen
Napoleon hatte neben den gesellschaftlichen und juristischen auch die realen Grenzen kompromisslos neu gezogen, alte Herrscher entmachtet, dafür andere – darunter viele Mitglieder seiner eigenen Familie – neu eingesetzt. Jetzt war dieser Furor beendet, und keiner wusste so recht, wie es weitergehen sollte. Die Bürger wünschten sich eine Verfassung, bei der die Fortschritte gewahrt würden, während die alten Herrscher vom Zustand quo ante träumten, die armen Leute wollten endlich wieder Brot, und die politischen Lenker waren einen
Moment lang ratlos – ihrer zerrütteten Macht nicht mehr sicher. An diesem Punkt angelangt, schienen Änderungen plötzlich möglich, und Beethovens großer Traum von einer versöhnten Menschheit rückte in greifbare Nähe. Es war ein kurzer Augenblick, wie die Geschichte lehrt, aber er blieb nicht ohne Folgen.
Das Kalkül Metternichs, den Glanz des Reichs wiederzubeleben, indem sein Kaiser als Gastgeber zugleich auch der Patron des Kongresses würde, ist aufgegangen, wenn auch unter Zuhilfenahme langwieriger, teurer und vielfach moralisch höchst bedenklicher Umwege. Denn wie er als kundiger Diplomat natürlich wusste, hatten die Abgeordneten der einzelnen Länder völlig unterschiedliche Anliegen, die sich nicht in wenigen Gesprächsrunden würden ausgleichen lassen. Dazu bedurfte es der gelösten Atmosphäre einer prächtigen Stadt wie Wien und genügender Anlässe, sich im informellen Rahmen zu verständigen. Und hierin konnte er sich ganz auf ihre Bewohner verlassen, die sich den Besuchern aus aller Herren Länder so viel lieber als Gastgeber denn als Besetzte wie noch in den Jahren 1805 und 1809 zeigen wollten, da war Belustigung und ein gutes Geschäft zu erwarten. Unzählige Posten waren ausgeschrieben, Zimmer und Güter des täglichen Gebrauchs wurden zu gesuchten Objekten, und ihre Preise stiegen im Laufe der Monate um ein Vielfaches. Die Delegationen mit ihrem Anhang, Besucher, Händler und Glücksritter gingen in die Tausende. Es wurden immer mehr, die sich in der von Basteien fest verschlossenen Inneren Stadt auf die Füße traten. Hofbälle, Veranstaltungen im Freien, Dˆıners in hohen Häusern, Feste mit den Bürgern und Soldaten in Parkanlagen, Jagdausflüge und Schlittenpartien für die Gäste von der Hofburg nach Schönbrunn auf eigens dorthin gebrachtem Schnee sowie düstere Spektakel wie das Gedenken an die Hinrichtung Ludwigs XVI. oder das Begräbnis des Fürsten de Ligne; all das wurde den Gesandten offeriert.
Um einige der protokollarischen Komplikationen zu umgehen, ließ der Kaiser 300 gleiche Karossen bauen, die zu jeder Tagesund Nachtstunde für seine berühmten Gäste zur Verfügung standen. Und schließlich gab es noch die Salons der Damen, in denen die Vorverhandlungen stattfanden. Bei den Bankiersfamilien Arnstein und Eskeles glühte die Preußenverehrung, im Hause Rasumovsky traf sich feinste Kammermusik mit den Hoffnungen der Legitimisten, wie man die Anhänger der Wiederherstellung monarchischer Rechte nannte, im Tanzsaal des römischen Kaisers unterhielt Friedrich
Schlegel unterdessen das gebildete Publikum: „Fürstin Liechtenstein mit ihren Prinzessinnen, Lichnowsky, im Ganzen 29 Fürsten wie auf einem Ball“, notierte Eichendorff in seinem Tagebuch. Der Weimarer Herzog Karl-August war unterdessen der Einzige, der sich die Kunstschätze der Stadt zeigen ließ und dabei auf Cellinis Salzfass stieß, während die kurländischen Prinzessinnen um die Überbringung der neuesten Einigungen zwischen dem Zaren Alexander und Metternichs Kanzlei wetteiferten. Napoleon auf Elba, der, um den sich alles drehte, konnte in der gesamten Zeit ungehindert täglich seine Berichte aus Wien studieren.
All das wurde bekannt, weil zwischen allen Gesprächen Unterhändler wirkten, die die Details weitertrugen und ein ganzes Heer von Spitzeln beschäftigten. Wenn es nicht tragische Folgen für die Einzelnen gehabt hätte, würde man schmunzeln, denn jeder der Hauptakteure wusste davon und hatte seine eigenen Gegenspionageabteilungen aufgebaut. So berichtete Humboldt seiner Frau schon im ersten Brief vom August 1814, dass sie ein eigenes Kuriernetz aufgebaut hätten, um den Metternichschen Spitzeln zu entgehen. Humboldt war mit seinem Kanzler Hardenberg und dem preußischen König einer der 800 zu täglichem Tisch geladenen Gäste, für die der Kaiser aufkam. In der Hofburg dampften die Herde, die Köche arbeiteten im ununterbrochenen Schichtbetrieb. Sie, ebenso wie die Angestellten der Burg, verdienen ewige Anerkennung, denn sie weigerten sich offenbar, als Agenten für den Polizeipräsidenten Hager tätig zu sein.
In Schönbrunn gut bewacht, harrte unterdessen Marie-Louise, die Gemahlin des Kaisers der Franzosen, mit ihrem kleinen Sohn, dem König von Rom, der Dinge, die da kommen sollten. Sie war das Unterpfand, das Kaiser Franz zwischen dem legitimistischen Anspruch der Bourbonen und seinem korsischen Schwiegersohn schwanken ließ, nachdem sich die beiden Eheleute am Ende doch erstaunlich gut verstanden hatten.
Abschaffung des Sklavenhandels
Doch dann führte ein Militär, der gleichzeitig auch Diplomat war, die Entscheidung herbei. Lord Castlereaghs Nachfolger als Botschafter Englands war der Herzog von Wellington, er gewann gemeinsam mit Blücher den Kampf, der Napoleon besiegte. Für die Verhandler ging es damit in die Endrunde. Rasumovsky, Metternich, Castlereagh und Humboldt hatten gemeinsam mit Talleyrand als Vertreter einer Verlierermacht und mit den vielen Delegierten kleinerer politischer Gebilde in zahllosen Separatsitzungen über viele Monate mit gebrochenen und wieder versöhnten Allianzen einen Kompromiss zustande gebracht, der in acht Bänden mit Nachträgen die Grenzen Europas friedlich neu ordnete.
Es wurde außerdem beschlossen, den Sklavenhandel abzuschaffen, die Schifffahrt zu regeln und die jüdische Bevölkerung mit neuen Rechten zu versehen. Es entstand ein erster Entwurf für die Deutsche Verfassung, die 1848 vollendet werden sollte. „Jeder“, hatte Talleyrand zuvor bemerkt, „muss ein wenig unzufrieden von hier fortgehen, jeder irgendein Opfer bringen. Aus diesen Opfern erwächst der Zusammenhang aller, das allgemeine Wohl.“Und er sollte Recht behalten. Auch wenn das weitere Jahrhundert nicht konfliktfrei verlief, so ermöglichten die geschlossenen Kompromisse doch für viele Jahrzehnte ein friedliches Auskommen in diesen Teilen der Welt.
Vergleichbar mit dieser Leistung war womöglich nur die Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948 – nachdem zuvor wieder große Kriege die Welt verwüstet hatten. Die Dauer der Verhandlungen war sogar länger als in Wien, Eleanor Roosevelt leitete sie. Ob dabei aber auch so viel getanzt wurde?
Napoleon hatte die realen Grenzen kompromisslos neu gezogen, alte Herrscher entmachtet, dafür andere neu eingesetzt.