Titos Grabstein und ein Erdbeerraub
Bianca Kos’„Wasserstaub“: ironisches Stadtporträt von Rijeka mit historischer Tiefe.
Für seine Ausstellung „Paying my electricity bill“hat der kroatische Künstler Nemanja Cvijanović aus einer Kopie des Grabsteins von Josip Broz Tito einen Wandheizkörper gefertigt. Für die Kulturhauptstadt Rijeka 2020 errichtete er – als Kommentar auf die grassierende Zerstörung von historischen Denkmälern – einen roten Partisanenstern aus 2800 Glasscherben auf dem Dach eines Hochhauses. Die bis in die Zeit des faschistischen Fiume zurückreichende Bedeutung des Hochhauses, die Symbolkraft des Kunstwerks und dessen kontroverse Rezeption – solche und viele weitere realhistorisch geprägte Episoden verarbeitet Bianca Kos in ihrem neuen Roman „Wasserstaub“.
Wie die Autorin ist auch ihre Protagonistin erst kürzlich nach Rijeka gezogen. Durch ausgiebige Zeitungslektüre macht sie sich mit der Stadt, ihrer Geschichte und der kulturellen Eigenheiten von Rijeka vertraut. Heiratsannoncen, Berichte von regionalen Kuriositäten, von Wahlkämpfen bis hin zur Geschichte der verschiedenen Zeitungen entwerfen ein mosaikartiges Bild einer Stadt, das sich gegen die gefälligen Zuspitzungen der touristischen Selbstvermarktung stellt. So erfahren wir vom Diebstahl von 120 Kilo Erdbeeren, von Mordversuchen an Zeitungsmogulen mittels Autobomben, dem Jahrestag der „Operation Sturm“(der gegen die Krajina-Serben gerichteten Großoffensive am Ende des Kroatienkrieges), den zahlreichen Stollen unter der Stadt und von ihren Industrie-Ruinen, etwa der Papierfabrik, die in den 1990er-Jahren nach 180-jährigem Betrieb schließen musste. Nicht zuletzt lesen wir von der grassierenden Alltagskorruption, die der österreichischen in nichts nachsteht. Derart wird Stadtgeschichte nicht bloß referiert, sondern in einzelnen Ereignissen spannend und anschaulich aufgefächert. Kos’ Vorgängerroman „Das Mundstück“widmete sich übrigens der zweitgrößten ukrainischen Stadt: Charkiw.
Fernsehserie als Begleitung
„Wasserstaub“ist auch eine Liebeserklärung an das Medium Zeitung. Zeitunglesen ist für Kos’ Protagonistin eine Lebensform, in ihrer Wohnung „liegt überall zerdrücktes Zeitungspapier herum, das ich noch lesen muss“, heißt es gleich zu Beginn. Ihr ständiger Begleiter ist die Netflix-Serie „The Paper“, die sich an der turbulenten Geschichte der Rijekaer Zeitung „Novi list“orientiert, und deren „Filmstory nur haarscharf an der Realität vorbeischrammt“. Erzählt wird von Korruption, Kapitalisierung des Journalismus und Einschränkungen der Pressefreiheit in Kroatien. Von Korruption und Nepotismus ist auch der Wahlkampf um das Zagreber Bürgermeisteramt gezeichnet, dem wir ebenfalls durch den Roman folgen: Auf der Wahlliste stehen „über zwanzig Kandidaten, die entweder bereits verurteilt wurden, gegen die ein Gerichtsverfahren läuft oder demnächst Anklage erhoben wird“.
Dies mag wenig erbaulich klingen, ist jedoch in einem erfrischend (selbst-)ironischen Tonfall erzählt. So entsteht ein detailreich gefügtes und facettenreiches Mosaik, das einen Einblick in den politischen Alltag einer bekannten und doch fremden Stadt vermittelt. „Wasserstaub“ist ein informiertes Stadtporträt mit historischer Tiefe und die vielleicht beste Einladung, Rijeka kennenzulernen.