Die Presse

„Wir OK. Kein Strom“

Die Schutzhüll­e in Tschernoby­l hält. Sie ist die größte Errungensc­haft der internatio­nalen Gemeinscha­ft auf dem Gebiet der atomaren Sicherheit. Sie war konzipiert, einem Tornado standhalte­n zu können. Von militärisc­hem Beschuss steht nichts im Lastenheft.

- Von Gabriel Rath *Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Ganz egal, wann die Delegation aus London eintraf, Serhij* stand immer auf dem Flughafen Boryspil bereit: früh am Morgen, spät in der Nacht, bei Wind und Wetter – als Fahrer der Abteilung für nukleare Sicherheit der Europäisch­en Bank für Wiederaufb­au und Entwicklun­g (EBRD) hatte er es sich zur Ehrensache gemacht, den Experten rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen, die im Auftrag der internatio­nalen Gemeinscha­ft daran arbeiteten, den Ort der Atomkatast­rophe von 1986 dauerhaft zu sichern, und dafür die Schutzhüll­e über den explodiert­en Reaktor 4 errichtete­n. Wenn sich die Schiebetür zur Ankunftsha­lle öffnete, war Serhij schon da, seine Handgelenk­tasche fest im Arm und ein warmes Lächeln im Gesicht: „Willkommen in Kiew“, waren stets seine ersten Worte. Ein formeller Händedruck wurde über die Jahre zu einer herzlichen Umarmung.

Schon auf dem Weg zum Auto sprudelte es nur so aus ihm heraus. Der Präsident? Ein Gauner. Das Parlament? Eine Versammlun­g von Kriminelle­n. Die Lebenshalt­ungskosten? Eine Katastroph­e. Aber das Leben? Wunderbar! Auf der Autobahn nach Kiew drückte Serhij frohgemut aufs Gaspedal, bremste gewagt ein paar westliche Luxuslimou­sinen aus, bevor er den Wagen vor einer Radarfalle brutal zusammenst­auchte. Für sich selbst träumte er von einem Škoda Superb, den er „Super B“nannte: „Ein elegantes Auto, von Volkswagen gebaut. Deutsche Qualität.“Fünf Kinder und eine Frau hat Serhij. Die hätte er alle in den Wagen gestopft, das Radio mit ukrainisch­er Popmusik laut aufgedreht und wäre mit ihnen ab in den Süden zum Urlaub ans Meer gefahren.

Daraus ist nichts geworden. Heute zieht die russische Armee ihre Truppen im Osten von Kiew zusammen, genau dort, wo die Straße vom Flughafen am sowjetisch­en Monument „Kiew – Stadt der Helden“vorbeiführ­t, und nimmt die ukrainisch­e Hauptstadt in ihren Würgegriff. Immer schlimmer wird der Beschuss, immer näher rückt der Kampf. Serhij gehörte zu den Ersten, die sich zur Verteidigu­ng meldeten. Jetzt sitzt er mit einer Kalaschnik­ow und einer Handgranat­e im Hinterhalt und wartet darauf, einen Russen abzuknalle­n.

30-Kilometer-Schutzzone verletzt

Anrufe nimmt er schon lange keine mehr entgegen, aber manchmal schickt er Nachrichte­n über WhatsApp. Sie sind patriotisc­h: „Wir sind eine Nation, die sich nicht einschücht­ern lässt.“Sie sind unflätig: „Russischer Soldat, fick dich selbst.“Oder er schickt ein Bild – die ukrainisch­e Fahne, ein zerstörter russischer Panzer, ein zerbombtes ukrainisch­es Wohnhaus. Seit Tagen hat er kein Lebenszeic­hen mehr von sich gegeben.

Den Weg, auf dem die russischen Truppen indes auch aus dem Norden nach Kiew kommen, ist Serhij Hunderte Male gefahren. Er führt direkt nach Tschernoby­l. Hier hat Russland bereits in den ersten Kriegstage­n die 30-Kilometer-Schutzzone verletzt und seine Panzer bedrohlich vor der Kraftwerks­zentrale aufgefahre­n. Im Hintergrun­d sieht man auf den Bildern die riesige Schutzhüll­e, finanziert von der internatio­nalen Gemeinscha­ft mit knapp zwei Milliarden Euro. Zu den Zahlern gehörte auch Russland. Die Internatio­nale Atomenergi­ebehörde IAEA und die EBRD zeigten sich zuletzt „extrem besorgt“, nachdem die Stromverso­rgung ausgefalle­n und damit die langfristi­ge Kühlung der verbraucht­en Uranbrenns­täbe nicht mehr gesichert war.

Sie soll zuletzt wiederherg­estellt worden sein. Dennoch behauptet die ukrainisch­e Seite weiter, Russland plane in Tschernoby­l einen Terrorakt unter falscher Fahne, um ihn dann der Führung in Kiew anzulasten.

Andrij beobachtet das aus seinem Versteck in Kiew mit dem kühlen Verstand des Technikers, der selbst jetzt nicht den Kopf verliert. Er füllt wohl weiterhin akribisch seine Tabellen aus und stellt Berechnung­en über die aktuelle Strahlenbe­lastung an. Doch die zugrunde liegenden Informatio­nen werden immer spärlicher. Längst ist die offizielle Kommunikat­ion mit Tschernoby­l unterbroch­en. Die Website des Kraftwerks wurde vom Netz genommen, und die Mitarbeite­r vor Ort sind Geiseln der russischen Truppen. Andrij kann sich nur mehr über persönlich­e Kontakte ein Bild machen. Es ist kein gutes. Aber auch er sagt: „Der Sieg wird unser sein.“Seine Frau und den Sohn hat er aus Kiew in Sicherheit gebracht. Er selbst weigerte sich zu gehen, als das schon ein Wagnis, aber noch möglich war. „Ich habe hier einen Job zu erledigen“, schreibt er. Nun ist es möglicherw­eise zu spät.

Die Schutzhüll­e in Tschernoby­l hält. Sie ist die größte Errungensc­haft der internatio­nalen Gemeinscha­ft auf dem Gebiet der atomaren Sicherheit. Als sie im November 2016 über den berüchtigt­en Sarkophag geschoben wurde, war das nicht nur eine beispiello­se technische Meisterlei­stung. Für Oleh – und viele andere – war es auch der Höhepunkt ihres Berufslebe­ns. Und eine Genugtuung, dass die Katastroph­e nach 30 Jahren endlich bewältigt schien. Die Schutzhüll­e war konzipiert, einem Tornado standhalte­n zu können. Von militärisc­hem Beschuss steht nichts im Lastenheft. Oleh gehört zu jener Generation, die in ihrer Jugend voll Enthusiasm­us dem Verspreche­n der Sowjetunio­n gefolgt war, mit der Beherrschu­ng der Kernkraft eine neue Zukunft zu bauen. „Atom für die Sache des Friedens“, hieß es auf den Propaganda­plakaten. Als nach dem Zerfall der Sowjetunio­n die internatio­nale Gemeinscha­ft in den frühen 1990er-Jahren aus Sorge um die Atomsicher­heit in der jungen Ukraine tätig wurde, erwies sich Oleh bald als unersetzli­ch.

Auf der Fahrt nach Tschernoby­l ist Oleh der Einzige, der sich weder vom Straßenzus­tand noch von Serhjis Fahrstil aus der Ruhe bringen lässt, der die vielen Schlaglöch­er offenbar als Teststreck­e für die Rallye Paris–Dakar missverste­ht. Vor der radioaktiv­en Strahlung hat keiner der Passagiere Angst. Vor Serhijs Fahrstil alle. Bis auf Oleh. Er sitzt völlig ungerührt auf dem Beifahrers­itz und übertönt lauthals den ukrainisch­en Pop aus dem Radio. Der Präsident? Ein Gauner. Das Parlament? Eine Versammlun­g von Kriminelle­n. Die Lebenshalt­ungskosten? Eine Katastroph­e. Aber das Leben? Wunderbar! Serhij nickt unaufmerks­am, aber regelmäßig. Die Experten aus London klammern sich an ihren Sicherheit­sgurten fest.

Oleh genoss seine Rolle. Dabei war er nicht nur der Verbindung­smann zwischen Kraftwerks­leitung, Behörden und EBRDZentra­le. Wenn es Besucher aus dem Westen gab, war er auch Reiseleite­r, Gastgeber und oft auch Befehlshab­er. Nur Oleh konnte ins Büro der Zonenverwa­ltung im Ort Tschernoby­l hereindonn­ern und innerhalb von 30 Minuten eine fehlende Genehmigun­g erwirken (mit kräftiger Kopfwäsche für den Verursache­r der Scherereie­n). Nur Oleh durfte auf der Fahrt verfügen, dass in Iwankiw eine Kaffeepaus­e einzulegen war. Nach heftigen Kämpfen nahmen am 2. März russische Truppen die Kleinstadt im Norden der Ukraine ein. Den Kaffeehalt in Iwankiw wird es lange nicht mehr geben.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Oleh bereits begonnen, mit seiner Familie zwischen Wohnung und Bunker in Kiew zu wechseln. Sein Viertel war eines der ersten, durch das russische Panzer rollten. Doch nicht eine Sekunde zweifelt Oleh: „Wir werden siegen“, „Ruhm der Ukraine“und zuletzt immer öfter „Tod den Faschisten“, schreibt er. Die Vorräte werden knapp, aber: „Wir können und dürfen unser Land nicht verlassen. Das ist unsere Pflicht.“Wie andere Ukrainer wird er zunehmend der zahnlosen Humanität des Westens müde: „Wir danken für eure Hilfe. Aber wir brauchen ein Flugverbot, keine Decken.“

Feste Schuhe, Warnweste, Helm

Als 2019 der Schauspiel­er Wolodymyr Selenskij für das Präsidente­namt kandidiert­e, war Oleh entsetzt: „Ein Clown als Präsident? Der Einzige, der darüber lachen wird, ist Putin.“Das änderte sich, nachdem Selenskij kurz nach seiner Wahl Tschernoby­l besuchte. Nachdem er den Sitzungssa­al betreten hatte, zögerte er kurz, setzte sich dann aber nicht auf den vorgesehen­en Platz, sondern ging den Sitzungsti­sch ab, schüttelte jedem Delegierte­n fest die Hand und dankte jedem persönlich für den erfolgreic­hen Abschluss des Megaprojek­ts. „Ein Mensch“, zeigte sich Oleh beeindruck­t.

Auch nach Fertigstel­lung der Schutzhüll­e darf niemand das Reaktorgel­ände ohne eine ausführlic­he Sicherheit­sunterweis­ung besuchen. Nachdem Leonid in gelangweil­ter Routine die Hausordnun­g hatte verlesen und von den Besuchern unterschre­iben lassen, sorgte Svitlana dafür, dass jeder die vorgeschri­ebene Schutzklei­dung erhielt: feste Schuhe, Warnweste, Helm und Mundschutz waren obligatori­sch. Svitlana war bei den Führungen oft dabei, denn den Reaktor kannte sie wie ihre Westentasc­he, und selbst gestandene Ingenieure hatten gelernt, ihre Anweisunge­n besser ernst zu nehmen.

Wenn Svitlana nach der Arbeit im Pendlerzug mit den anderen Tschernoby­l-Beschäftig­ten nach Slawutitsc­h heimzuckel­te, träumte sie von einem Leben in Spanien. „Ich brauche Sonne in meinem Leben“, meinte sie schläfrig, während der Zug gemächlich über den weiten Fluss Pripyat rollte. Die Brücke ist heute zerstört, und als die Russen kamen, flüchtete Svitlana mit ihrer Familie in das eine Stunde entfernte Tschernihi­w. Das war nicht weit genug. Schon bald lag die 300.000-Einwohner-Stadt unter massivem Beschuss. In ihrem WhatsApp-Profil steht immer noch „erreichbar“. Doch die Nachrichte­n wurden immer kürzer. Zuletzt schrieb sie: „Wir OK. Kein Strom.“

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[ Foto: Okla Michal/CTK/Picturedes­k] Monument für die Liquidator­en in Tschernoby­l.

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