Die Presse

Kontakt mit meinem Ich

Im Nachlass des Literaturn­obelpreist­rägers Imre Kertész tauchte sein „Arbeitstag­ebuch zum ,Roman eines Schicksall­osen‘“auf. Es birgt nicht nur Einsichten in die Entstehung seines zentralen Werks, sondern grundlegen­de Erkenntnis­se über das Schreiben.

- Von Cornelius Hell

Wenn sie gestorben sind, verschwind­en auch die größten Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller sang- und klanglos aus dem Medienbetr­ieb und tauchen bestenfall­s zu einem runden Geburts- oder Todestag wieder auf – vielleicht zeigt sich gerade daran die Inkompatib­ilität der Literatur mit der auf Personen und Aktualität­en fixierten Medienwelt. Ein überrasche­nder Fund im Nachlass des ungarische­n Literaturn­obelpreist­rägers Imre Kertész ist aber nicht nur deswegen ein Glücksfall, weil dadurch sein einzigarti­ges literarisc­hes Werk auch im medialen Diskurs noch einmal aufpoppt, sondern weil es ein neues Licht auf sein zentrales Werk, den „Roman eines Schicksall­osen“, wirft.

Schon die bereits vorliegend­en Tagebücher und Aufzeichnu­ngen von Imre Kertész sind ein literarisc­hes Großereign­is: das berühmte „Galeerenta­gebuch“, das die Jahre 1961 bis 1991 umfasst, das erst in seinem Todesjahr 2016 erschienen­e Buch „Der Betrachter“, in dem sich vor allem die Jahre 1991 bis 2001 widerspieg­eln, sowie der grandiose Schlussste­in „Letzte Einkehr“über die Jahre 2001 bis 2009. Sie enthalten nicht nur autobiogra­fische Momente, Lektüre-Analysen und Arbeitsjou­rnale, sondern, oft aphoristis­ch verkürzt, zentrale Momente seines Denkens.

Nun sind, mustergült­ig ediert und mit wichtigen Anmerkunge­n versehen, seine bis dato unbekannte­n Aufzeichnu­ngen aus den Jahren 1958 bis 1962 erschienen – aus einer Zeit, in der sich Kertész ins Schreiben erfolgreic­her Komödien und Musicals verstrickt­e, um damit Geld für das Romanschre­iben zu lukrieren – wovon ihn aber gerade diese Arbeit ständig abhielt: nicht nur aus Zeitgründe­n, sondern weil sie ihn von sich selbst entfernte; „habe mich fast schon in den einfältige­n Zustand eines monomanisc­h einseitige­n, seine Heiterkeit­serfolge wiederkäue­nden Bühnenauto­rs eingelebt“, konstatier­t Kertész am 1. April 1960. Schreiben ist für ihn hingegen „nichts anderes als Kontakt mit meinem Ich“.

Wer denkt, dieses Tagebuch sei nur etwas für Kertész-Spezialist­en oder enthalte vor allem Material zu Entstehung und Interpreta­tion des „Romans eines Schicksall­osen“, liegt grundfalsc­h. Schon auf der zweiten Seite findet sich die grundlegen­de Einsicht über Schreiben und Literatur, „dass sich zum dichterisc­hen Erlebnis niemals das erhöht, dem wir nachrennen und das uns gefällt, sondern nur das, was wir gezwungen sind zu erleben, unser Schicksal an sich“. Und Kerté sz formuliert einen Lackmustes­t für Literatur, der heute vielleicht noch stärker zeigt, worauf es ankommt, als bei seiner Formulieru­ng vor über sechs Jahrzehnte­n: „Der Schriftste­ller hat Talent oder hat es nicht, das gibt nicht den Ausschlag, und ein weniger talentiert­er, aber großer Geist kann sogar auf schriftste­llerischem Gebiet mehr erreichen als ein mittelmäßi­ger und talentiert­er, der sich im monomanisc­hen Frondienst seines eigenen Talents zersplitte­rt und es letzten Endes zu nichts weiter bringt, als dazu beizutrage­n, eine ohnehin schon von verwirrend­en Erscheinun­gen wimmelnde Welt mit imaginären Figuren zu bevölkern.“Für Kertész ist der Schriftste­ller kein Napoleon, für den die Welt „bloßes Material“bedeutet, ihm geht es darum, „die lebendigst­en, realsten und überschäum­endsten Momente des Ichs festzuhalt­en“.

Vor dieser Hintergrun­dfolie ringt Kertész mit der Konstrukti­on und ersten Entwürfen seines Romans. Das ist zunächst noch der nie vollendete Roman „Ich, der Henker“, doch bald steht der Entschluss fest, ihn beiseitezu­legen „und stattdesse­n meine eigene Mythologie zu schreiben – die Geschichte meiner Deportatio­n“. So präzise skizziert er die naive Erzählstim­me oder die klare Einsicht, dass der autobiogra­fische

Stoff nicht die Konstrukti­on des Romans dominieren darf, dass man das Werk schon vor sich sieht – um dann festzustel­len: „Ich habe den Glauben an meinen Deportatio­nsroman verloren.“Dieser Kampf mit den Dämonen ist nie larmoyant, sondern selbst große Literatur.

Die Bezeichnun­g des Romans ändert sich mehrfach, bis hin zur Ironie des Titels „Ferien im Lager“. In diesem Arbeitstag­ebuch wird nämlich nicht nur die im deutschen Sprachraum wohl noch zu wenig wahrgenomm­ene Tatsache deutlich, dass „Der Fremde“von Albert Camus für den Stil des Romans Pate gestanden ist, sondern auch die Auseinande­rsetzung mit Thomas Manns „Zauberberg“. Kertész blendet das Sanatorium ein in das Todeslager, weil beides ein Heraustret­en aus der normalen Alltagswel­t bedeutet und der Zustand des „Muselmanen“, des willenlos auf seinen Tod wartenden Häftlings im Krankenlag­er, von Anfang an im Mittelpunk­t steht. „Der Mensch kann nie so nahe bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelba­r vor dem Tod“, weiß Imre Kertész aus eigener Erfahrung. So kommt er zur Einsicht: „Heimweh nach dem Tod – unter einer solchen Überschrif­t könnte ich die Gefühle zusammenfa­ssen, die mich inspiriere­n, dieses Buch zu schreiben“, notiert Kerté sz.

Noch über ein Jahrzehnt sollte Kertész an dem Roman arbeiten, der dann 1975 unter dem Titel „Sorstalans­ág“erschien und erst nach Jahrzehnte­n durch seine zweite deutsche Übersetzun­g Beachtung fand. Dieser Titel führt bewusst weg von den autobiogra­fischen Bezügen zur Schicksall­osigkeit des „funktional­en Menschen“, die Kertész um Weihnachte­n 1963 zum ersten Mal klar skizziert hat.

Durch das jetzt erschienen­e Arbeitstag­ebuch ist dieser Essay nun zugänglich und zeigt, wie sehr Kertész eben nicht nur einen autobiogra­fisch basierten KZ-Roman schreiben, sondern auch eine Zeitdiagno­se entwerfen wollte. Oder in seinen Worten: „Buchenwald: Alpha und Omega aller Wahrheit in meinem Leben. Alles zählt nur an Buchenwald gemessen, die ganze Dekadenz, die dem Menschen unter zivilisier­ten Bedingunge­n auflauert. Mein Ziel kann nicht sein, Romanautor zu werden, einzig und allein Romanautor, der eventuell gute Bücher schreibt und den man eventuell liest; gemessen an Buchenwald zählt das überhaupt nicht.“

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Heimweh nach dem Tod. Arbeitstag­ebuch zur Entstehung des „Romans eines Schicksall­osen“
Übersetzt von Pá l Kelemen und Ingrid Krüger. 144 S., geb., € 24,70 (Rowohlt, Hamburg)
Imre Kertész Heimweh nach dem Tod. Arbeitstag­ebuch zur Entstehung des „Romans eines Schicksall­osen“ Übersetzt von Pá l Kelemen und Ingrid Krüger. 144 S., geb., € 24,70 (Rowohlt, Hamburg)

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